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Ausschnitt Buchcover
Quelle: Piper©

Buch des Monats | Januar

Ein Genozid in Kinderaugen

Gaël Fayes aufrüttelnder Romanerstling »Kleines Land«

Zu Beginn des Romans »Kleines Land« erklärt der Vater – ein Franzose – seinen beiden Kindern Ana und Gabriel in Burundi: »Hutu gibt es am meisten, die sind klein und haben eine dicke Nase. (…) Und dann gibt es die Tutsi wie eure Mama. Die sind viel weniger als die Hutu, groß und dünn mit schmaler Nase, und man weiß nie, was sie denken«. Gabriel und seine kleine Schwester versuchten seither, auf der Straße zu erkennen, wer Tutsi ist wie die schöne, elegante Mama – und wer Hutu. Meistens gelang es ihnen nicht. Gabriel will sich selbst nicht einordnen lassen, das Kind weigert sich auch, die Welt in Gut und Böse einzuteilen. Doch dass die Welt schon für Kinder sehr kompliziert sein kann, das lernt man recht schnell in diesem außergewöhnlichen Roman.

Burundi und Ruanda sind die beiden kleinen Nachbarn im Osten Afrikas, die immer wieder von schweren Auseinandersetzungen zwischen Hutu und Tutsi sowie von Gewalt, Flucht und Unruhen bis hin zum Genozid in Ruanda 1994 mit bis zu einer Million Toten gezeichnet wurden. »Kleines Land« erzählt davon. Es ist der erste und in Frankreich bereits mit vielen Preisen ausgezeichnete Roman des Rap-Musikers Gaël Faye. Der Autor ist selbst in Bujumbura in Burundi aufgewachsen und als Jugendlicher nach dem Völkermord an den Tutsi in den Großraum Paris gekommen. Auch Ana und Gabriel bleiben nicht in Burundi. Gabriel, dessen Sicht der Roman darstellt, wird ein Vermittler zwischen Afrika und Europa – auch für die Leser dieses Buches. Einige haben »Kleines Land« kritisiert, weil es Afrika zu negativ aus einer Art kolonialistischer Perspektive darstelle. »Kleines Land« beschreibt die Entwicklung bis zum Genozid aus der Sicht eines Jungen, der auf die französische Schule in Bujumbura geht, dessen Freunde in derselben Straße leben wie er – privilegierte Kinder in Afrika, deren Leben aber genau jene Brücke darstellt, die uns als Lesern in Europa eine Einsicht in den Völkermord vermittelt. Eindringlicher als jedes Geschichtsbuch. Und es ist dabei kein einfaches Buch. Am Ende ist die zuvor so stolze Mutter nur noch ein Schatten ihrer selbst. Schlimmer: Sie macht ihren eigenen Kindern Vorwürfe, weil sie noch leben (während in Ruanda der Rest der Familie der Mutter hingemetzelt wurde), sie droht, ihre Tochter mitzureißen in einen Strudel des Grauens. Nur eine von vielen traurigen und eigentlich kaum beschreibbar schrecklichen Szenen, die einem aus »Kleines Land« im Gedächtnis bleiben werden (lys.).