©
Die neuen Dos and Don'ts der Innenstädte
Quelle: us©

Best of 20 | Gasgeben beim Entschleunigen

30, 20, null – wer bietet weniger?

Innenstädte mit Tempo 30 und autofreien Straßen

Corona hat eine Entwicklung beschleunigt, die auch ohne Virus längst auf der Überholspur war. Europa- und bundesweit entschleunigen Großstädte ihre Innenstadtbereiche. Paris und Brüssel setzen flächendeckend auf Tempo 30 oder gar Tempo 20, Berlin und Hamburg in einigen Straßen gar auf Tempo Null – zumindest für Autos, die dort draußen bleiben müssen. Mehr Raum für Fußgänger*innen zur Begegnung und zur Bewegung – das sind die neuen Ziele der Verkehrsplaner*innen. 

In Europas Metropole Brüssel trauten in diesem Sommer viele Menschen ihren Augen nicht so recht – und sich erst einmal längere Zeit auch nicht auf die Straßen im Herzen der Stadt. Mitten in der Hochzeit von Corona hatte die Stadtregierung das Stadtzentrum zur verkehrsberuhigten Zone erklärt, in der auch die verbliebenen Autos nur Tempo 20 fahren durften. Und nicht nur das: Radfahrer*innen und Fußgänger*innen hatten auf rund fünf Quadratkilometern rund um den Grande Place mit seinen alten Gildehäusern auch noch Vorrang. Die Straße gehörte zuerst einmal ihnen – vor allem, um in Corona-Zeiten mehr Platz zu haben, Abstand zu halten. Es dauerte ein wenig, bis auch die Autofahrer*innen »mitspielten«. Aber der ohnehin ausgedünnte Verkehr half mit, dies da und dort tatsächlich umzusetzen.

Nun war Brüssel wahrlich nicht die einzige europäische Großstadt, die in diesem Sommer verkehrsberuhigt wurde – teils »von oben«, teils einfach durch Corona. Aber die Brüsseler Stadtregierung gehörte zu denen, die dies offenbar gut fanden. Die EU-Hauptstadt – bisher ein Eldorado für Autofahrer*innen – wird ab Januar 2021 weiter vorangehen und im ganzen Stadtgebiet Tempo 30 einführen; ausgenommen nur Straßen, an denen ausdrücklich anderes beschildert ist. Hintergrund ist jetzt nicht mehr nur die Abstandswahrung in Corona-Zeiten, sondern auch die schlechte Luft in der Metropole. Für 2022 denkt man deshalb auch noch an eine City-Maut für Autos. Das mit der Luft hat Brüssel übrigens kurioserweise die EU ins Stammbuch geschrieben. Und die hat mit strengen Regeln in Sachen Luft auch andere Metropolen angestoßen, gibt es doch kaum eine europäische Großstadt, in welcher Jahrzehnte mit dem Credo »autogerechte Stadt« Luft und Lebensqualitäten nicht deutlich in Mitleidenschaft gezogen haben. Tempo 30 ist da mittlerweile das probate Mittel – längst fast schon flächendeckend in Paris, London oder Barcelona. Paris etwa will ebenfalls Anfang 2021 nachziehen. Ein Expertenrat der Regierung hat das Modell mittlerweile sogar für alle Städte in Frankreich empfohlen. Und die Entschleunigung zieht sich durch halb Europa. Tempo 30 als Regel ist zwar noch die Ausnahme (Freiburg war kürzlich die erste Stadt, die einen gegenteiligen Vorstoß beim dafür zuständigen Bundesverkehrsministerium unternommen hatte). Aber Tempo 30-Zonen werden überall massiv ausgeweitet. Auch in Deutschland, zuletzt etwa in Mainz, in Aschaffenburg oder in Berlin, wo  angeblich auf acht von zehn Straßen Tempo 30 vorgeschrieben ist.

Die Vorteile der Reduzierung liegen auf der Hand: bessere Luft, weniger Lärm, mehr Sicherheit. Experten mahnen allerdings an, dass vieles davon aber nur funktioniere, wenn der Verkehr in diesen Straßen fließe. Stop-and-go bei Tempo 30 sei manchmal sogar schlechter als fließender Verkehr bei Tempo 50. Wo manche Städte die Autos verlangsamen oder ihren Fahrer*innen das Fahren über neue Kosten wie Maut oder Parkgebühren verleiden, setzen andere deshalb darauf, ganze Quartiere oder Straßen autofrei zu machen. Berlin hat auf der legendären Friedrichstraße ab Sommer für fünf Monate die Autos ausgesperrt und den Raum zwischen Fußgänger*innen, E-Roller- und Radfahrer*innen neu aufgeteilt. Hamburg hat das Gleiche mit seinem mondänen Jungfernsteg gemacht, der nun auch mehr dem Promenieren als dem zuvor beliebten (Auto-) Posen dient. Die Promenaden sind dabei ganz den Zwei- und Vierbeinern (zumindest denen, die sich auf diesen bewegen) vorbehalten, während man auf Rädern die nunmehr autofreien Straßen zu benutzen hat; Kinderwagen einmal ausgenommen. Beide Projekte tragen noch den Stempel »Versuchsstadium«. In Deutschland können Städte nämlich nicht ganz so einfach Verkehrsraum neu aufteilen, sondern müssen dies in der Regel begründen. Etwa mit einem erhöhten Radverkehrsaufkommen oder mit der Luftverschmutzung. Lebensqualität alleine reicht da nur bedingt als Grund. Hilfreich, wenn da Brüssel Regeln vorgibt. Auch forsche Stadtobere haben mittlerweile gelernt, dass ein behutsames Umsteuern schneller zum Ziel führt, sind doch im anderen Falle Anwohner*innen schnell mit Klagen verbal und juristisch zur Stelle. Allerdings hat sich schon mancher Beobachter da die Frage gestellt, wie das einst beim Mantra der autogerechten Stadt mit dem Begründen und den Widerspruchsrechten war. Heute sprechen in diesem Zusammenhang denn auch Verkehrsplaner*innen von menschengerechten Städten – was deutlich besser klingt, als einem Verkehrsmittel gerecht zu werden. Übrigens: Die Sache mit Tempo 20 wird in den Städten nicht nur wegen der Autofahrer*innen gemacht. Berlin etwa hat auch auf der autofreien Friedrichstraße das 20-Schild aufgestellt. Radfahrer*innen sollen in Pflicht genommen werden. Und das könnte zunehmend wichtig werden, wenn diese ihren natürlichen Feind (das Auto) verlieren und immer mehr selbst zu Herren und Frauen der Straße werden. Und wenn die Zahl der E-Bikes weiter rasant zunimmt. Für letzteres spricht einiges. Kürzlich ist selbst einer der Inbegriffe motorisierter Freiheit auf den Straßen in die Serienproduktion eingestiegen: die (noch) Motorrad-Legende Harley-Davidson. Und der Name der eigens dafür neu gegründeten Firma? Serial 1 Cycle. Serial 1 war die allererste Harley aus dem Jahre 1903. Harley scheint den Trend erkannt zu haben … (sfo.).