©
Politik mit Augenmaß: Ticket für alle, Tankrabatt nur bei Bedarf für Landbewohner*innen
Quelle: vs.©

Leitartikel | Umdenken bitte

Prioritäten statt Privilegien

Zeitenwende erfordert auch Politikwende

Manchmal versuchen wir, uns beim Schreiben ein wenig in die Rolle derer zu versetzen, über die wir schreiben. Zum Beispiel in die Rolle eines Bundesfinanzministers. Zugegeben: Als Journalist*innen, Stadtbewohner*innen sowie Rad- und ÖPNV-Fahrer*innen würden wir wohl versuchen, das Neun-Euro-Ticket zu erhalten, und die Künstlersozialkasse (eine Sozialversicherung für Künstler*innen und Publizist*innen) sowie den Pauschalunkostenabzug für Journalist*innen vielleicht auch. Allerdings hätten wir es leichter als ein Porsche fahrender, gut verdienender und Konzernen nahe stehender Finanzminister, der im Einsatz für E-Fuels und Tankrabatte sowie gegen Neun-Euro-Ticket, Tempolimit und die Streichung netter Privilegien für Besserverdienende und Dienstwagenfahrer*innen schnell Kritik erntet. Unser Vorteil wäre, dass das Neuner-Ticket nicht nur der Umwelt dient, sondern auch von jeder/m zweiten Bundesbürger*in genutzt wird und diese derzeit spürbar entlastet. Auch bei Radwegen stünde bzw. führe wohl eine breite Mehrheit der Bevölkerung hinter uns, besitzt doch statistisch Jede/r hierzulande ein Rad. Und bei Sozialversicherung und Steuervereinfachungen für Kulturschaffende könnten wir zumindest auf Billigung derer hoffen, die in diesem Jahr und auch grundsätzlich schauen müssen, wie sie über die Runden kommen …

Da hat es der aktuelle Finanzminister schwerer. Das verstehen wir, auch wenn wir wenig Verständnis dafür haben. Womit wir beim Thema wären: Debatte und Geschichte des Neun-Euro-Tickets zeigen, dass in Berlin einige Politiker noch nicht in der »Zeitenwende« angekommen sind, von der sie gerne reden. »Zeitenwende« nämlich erfordert auch Um- und Neudenken. Diese ganz besonders. Klima, Krieg und Corona: Die Deutschen stellen sich auf schwierige und ungemütliche Zeiten ein. Viele müssen – und erstaunlich viele wollen – sich einschränken. Klima, Krieg und Corona haben bei vielen auch das Bewusstsein entstehen lassen, dass Wirtschaft, Wachstum und Wohlstand nicht alles sind. Freiheit, Sich-Bescheiden, Solidarität und der Blick auf das Wesentliche gewinnen an Bedeutung. Da passen Tausch- und Klientelpolitik nicht mehr. »Dein Ticket, mein Tankrabatt« ist in Zeiten des nun weniger Machbaren nicht mehr zeitgemäß. »Kein Rabatt, kein Ticket« schon gar nicht. Mehr Solidarität sowie der Blick fürs Ganze und die Schwächeren (und das werden in diesem Jahr nicht gerade wenige sein) sind angesagt. Das Land braucht einen Politikwechsel und zumindest für die nahe Zukunft einen Fokus auf Familien und Alleinerziehende, Normal- und Geringverdienende, Renten- und Sozialhilfe-Empfänger*innen. Zwei Beispiele: Gerade in diesem Frühjahr haben deutsche Großunternehmen mit die höchsten Dividenden der Geschichte ausgeschüttet. Gleichzeitig erhalten viele Führungs- und hochdotierte Fachkräfte oft nicht gerade kleine Dienstwagen, die sie gegen eine Pauschalbesteuerung auch privat nutzen können (obwohl deren überbordende Technik eine Trennung erlauben würde). Gegen beides ist grundsätzlich nichts zu sagen. Doch nicht in dieser Zeit. Fahrzeuge und Privatnutzungen werden von Steuerzahler*innen mitfinanziert. Allein Privatnutzungen mit bis zu sechs Milliarden Euro pro Jahr. Gleichzeitig fehlt angeblich Geld für ein Neun-Euro-Ticket. Oder für eine Erhöhung der Hartz-IV-Sätze um zehn Prozent, obwohl viele Waren gerade um bis zu 30 Prozent teurer wurden. Wobei es hierbei um Beträge geht, die schon vor dem Krieg nicht einmal für die Tankfüllung eines Dienstwagens gereicht hätten. Statt dessen wird gerne darauf verwiesen, dass die Inflation bei Hartz IV ja eingerechnet werde. Stimmt, aber erst mit Verzögerung von eineinhalb Jahren. Gleichzeitig werden Steuersenkungen erwogen, die bei Menschen über 600.000 Euro Einkommen 1.000 bis 2.000 Euro ausmachen, bei normalverdienenden Familien oder bei Geringverdienenden aber nur in homöopathischen Dosen ankommen. Wobei eigentlich allen klar sein müsste, dass in der gegenwärtigen Situation Einmalzahlungen jeden Steuersenkungen vorzuziehen sind. Erstere entlasten Schwache stärker. Bei Letzteren wäre es genau umgekehrt. Und das wäre sogar die noch schlechtere Botschaft als ein Tauschhandel …

Ein Ticket, das für zehn Milliarden Euro der Umwelt dient und die Hälfte der Bevölkerung in diesen ungemütlichen Zeiten entlastet, sollte da eigentlich ein No-Brainer sein. Dass die andere Hälfte, vornehmlich auf dem Land, davon weniger profitiert, sollte kein Ausschlusskriterium sein. Sondern Ansporn, für eben diese eine Art Tankrabatt bis zum nächsten Bahnhof zu schaffen – aber nicht einzelne Stadtbewohner*innen mit Bahn- und Tankrabatt doppelt zu fördern und nicht Landbewohner*innen partout mit dem Auto bis in die Innenstadt fahren zu lassen. Zumal alles durchaus finanzierbar wäre (s. Beitrag »Wo ein Wille, da ein Ticket«). Doch gerade die Kombi aus Ticket- und Tankrabatt zeigt(e), wie oftmals doppelt und dreifach und noch dazu unsinnig gefördert wurde. Politikstil von gestern, wenn man so will (und wenn das Wort »Stil« hier überhaupt passen würde). Das ist, als würde man einen Garten mit Bäumen, Blumenbeeten und Rasen zwei Mal komplett mit Schlauch und Gießkanne wässern – und dann noch den Rasensprenger über den gesamten Garten rieseln lassen. Und das, obwohl das Wasser knapp ist und die Temperaturen hoch sind. Doch am Ende hat niemand etwas davon, wenn das gesamte Wasser alle ist – oder der Garten absäuft. Jede/r gute Gärtner*in hingegen würde Schlauch, Gießkanne und Rasensprenger gezielter einsetzen – und schon gar nicht nur die Tannen wässern, weil er/sie eine besonders gute Beziehung zum Verband der Weihnachtsbaumverkäufer*innen unterhält. Und nein: Es wäre in diesem Falle auch keine gute Begründung, dass eine Mehrheit der Deutschen einmal im Jahr Weihnachtsbäume kauft … (vss.).