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Ein Nachfahre: Hermann Nitsch - Österreicher, Frankfurter, Aktionskünstler
Quelle: 3sat©

Kunst | 100 Jahre Dada(ismus)

Happy Birthday DADA

Film + Essay | Der Beginn der Performance

»Tzara lässt sein Hinterteil hüpfen wie den Bauch einer orientalischen Tänzerin, Janco spielt auf einer unsichtbaren Geige. Frau Hennings mit einem Madonnengesicht versucht Spagat. Huelsenbeck schlägt unaufhörlich die Kesselpauke, während Ball, kreidebleich wie ein gediegenes Gespenst, ihn am Klavier begleitet.« [weiter…]

Essay | Performance-Kunst

Die Kunst-Revoluzzer

Vom Dadaismus bis zu Lady Gaga

Ungezügelt, anarchisch und schockierend waren die Aktionen der Dadaisten. Sie gelten
als die Wegbereiter der Performance-Kunst. Ob Niki de Saint Phalle, Joseph Beuys, Yoko
Ono, Marina Abramovic oder, in der Popwelt, Lady Gaga – sie alle lieben die Provokation
und die Revolution in der Kunst

Von Wolfgang Horn

1947 bricht ein amerikanischer Künstler mit allen Maltraditionen: Er trägt seine Farben nicht mehr mit dem Pinsel auf, sondern gießt und tröpfelt sie in fließenden Bewegungen auf seine Bildträger, bis ein abstraktes, räumlich wirkendes Geflecht aus Linien und Punkten entsteht. Zwei Jahre später beginnt ein italienischer Künstler in Mailand, seine Leinwände zu malträtieren, indem er sie durchlöchert. 1958 wird er dazu übergehen, ihnen mit einem Messer tiefe Schnittwunden zuzufügen. Etwa zur selben Zeit arbeitet eine junge Französin Farbbeutel in ein Gipsrelief ein. Sie nimmt einige Meter Abstand, legt ein Gewehr an und schießt. Die Farbbeutel platzen, ihr Inhalt ergießt sich über das Relief.

Befreiung aus Kunstkonventionen

Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchen diverse Künstlerinnen und Künstler in Europa und den USA, die Zweidimensionalität der Leinwand zu überwinden und den Raum zu erobern. Die Aktion wird Teil der Kunst. Am Ende steht zwar immer noch ein Werk, aber das eigentlich Wichtige ist der Prozess, der ihm vorangeht: die Geste, die Handlung. Die Bewegung um das Bild, der expressive Farbauftrag, der Stich, der Schnitt oder Schuss sind entscheidende Schritte hin zur Performance. Der Maler und Bildhauer Lucio Fontana nennt seine perforierten und durchschnittenen Bilder damals »Concetti Spaziali« (»Raumkonzepte«). Sie sind ein Befreiungsschlag vom klassischen Tafelbild, das Raumtiefe nur mit den Mitteln der Illusion erzeugt.

Die Werke Fontanas dagegen lassen den Raum tatsächlich ins Bild eindringen. Seine Einschnitte sind, wie die Farbspuren in den »Drip Paintings« von Jackson Pollock oder jene in den »Schießbildern« von Niki de Saint Phalle, Spuren eines performativen Aktes. »Jack the Dripper«, wie der 1956 verstorbene Pollock schon zu Lebzeiten genannt wird, gilt als Vater des Action Painting; sein Vermächtnis wird die nachfolgenden Künstlergenerationen prägen. Das bedächtige Vor-der-Staffelei-Stehen weicht einer regelrechten Malperformance. Damit zieht das Vergängliche in die Kunst ein, die Flüchtigkeit des Augenblicks. Nicht das abgeschlossene Werk steht im Mittelpunkt, sondern die Handlung als Ausdruck des künstlerischen Wollens.

Chaos, Schock und ein verstörtes Publikum

Die ersten Wegbereiter der Performance-Kunst, die sich in den 1960er Jahren als eigene Kunstform zu etablieren beginnt, hat es allerdings schon viel früher gegeben: noch vor dem Ersten Weltkrieg, zur Zeit der Avantgarden und der großen »Ismen«. Eine Quelle ist die Theaterkonzeption der italienischen und der russischen Futuristen, die sich von Traditionen lossagte und bewusst auf logische Strukturen verzichtete. Varieté, Zirkus, Chaos, Schock waren die Mittel, um die Ideen der Bewegung dem Publikum nahezubringen. Da wurden, um schon zu Beginn einer Veranstaltung Unruhe zu verbreiten, Plätze mehrfach verkauft oder Knallfrösche unter den Sitzen versteckt.

Hugo Ball und Emmy Hennings waren 1915 aus Deutschland in die Schweiz geflohen und begründeten dort eine der radikalsten künstlerischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts, den Dadaismus. Das Cabaret Voltaire wurde ein Raum der Anarchie, des rituellen Spiels mit Masken, Marionetten, wunderlichen Kostümen, Lautgedichten und Geräuschmusik. Ein radikal neuer Ansatz, der die Seh- und Rezeptionsgewohnheiten des Publikums verändern, kurz: mit Konventionen brechen wollte. Anlässlich ihrer ersten Soiree verkündete Hugo Ball selbstbewusst: »Dada ist eine neue Kunstrichtung. Das kann man daran erkennen, dass bisher niemand etwas davon wusste und morgen ganz Zürich davon reden wird.«

Er behielt recht. Aber nicht nur ganz Zürich redete davon, auch andernorts versammelten sich Brüder und Schwestern im Geiste: Traum und Psyche, das Unbewusste, der Zufall standen im Zentrum der Pariser Surrealisten um André Breton. »Der Zufall soll unser Gott sein«, schrieb dessen Wegbegleiter Antonin Artaud. Die Surrealisten waren es, die das »Prinzip Zufall« in das künstlerische Schaffen eingeführt haben, diesen festen Bestandteil vieler späterer Performance-Konzepte.

Die Aktionskunst geht um die Welt, im Handgepäck: die Performance

Der Zweite Weltkrieg kappte die Bande zwischen Europa und den progressiven Entwicklungen in der Kunst für viele Jahre. Viele bedeutende Avantgarde-Künstlerinnen und -Künstler emigrierten in die USA, so auch die Bauhaus-Lehrer Josef Albers und Walter Gropius. Am Black Mountain College in Asheville, North Carolina, trafen sich die beiden wieder. Das für seine Fortschrittlichkeit berühmte College zog zahlreiche junge und experimentierfreudige Kunstschaffende an, unter ihnen auch John Cage. Seine Versuchsanordnungen als Komponist nahmen direkten Bezug auf die »Écriture automatique«, das »automatische Schreiben« der Surrealisten. In der Weiterführung der Avantgardebewegung kommt ihm eine Schlüsselrolle zu. Gemeinsam mit dem Tänzer Merce Cunningham legte er bereits in den 1940er Jahren den Grundstein für die Aktionskunst der 1960er Jahre. Er vereinigte dadaistischsurrealistische Zufallsverfahren und simultane Aktionen in Multimedia-Events, die alle Gattungsgrenzen sprengten.

Durch Cage und seine Schüler kam die neue Kunstform Anfang der 1960er Jahre auch nach Westdeutschland. Im Handgepäck: die Performance. Die neue Kunst aus den USA ist anarchisch, wild, ungezügelt und für viele Normalbürger in der konservativen Adenauer-Ära einfach nur schockierend. Sie hat einen allumfassenden Anspruch, schließt Literatur, Musik, Malerei und Film mit ein. Ihr Name: Fluxus. Ihr Schamane und Hohepriester: Joseph Beuys.

In Konzerten oder sogenannten Events, in provokativen Aktionen, die nicht selten mit der Verletzung von Körpertabus verbunden sind, erteilt Fluxus allen herkömmlichen Aufführungsformen, vor allem aber der Kommerzialisierung und Kategorisierung von Kunst eine Absage. Nam June Paik präsentiert seine Installationen aus Fernsehapparaten, Wolf Vostell seine Plakatabrisse, sogenannte Dé-coll/agen. Und Joseph Beuys führt 1965 einem be- oder auch entgeisterten Publikum vor, »wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt«: Er sperrt sich in die Galerie Schmela in Düsseldorf ein, die Zuschauer stehen draußen vor den Fenstern. Beuys’ Kopf ist mit Blattgold und Honig umhüllt, in seinen Armen liegt ein toter Hase. Ihn trägt Beuys in scheinbar inniger Zwiesprache drei Stunden lang durch die Galerie.

Die deutschen Fluxus-Künstler haben politische Ziele, wollen die Gesellschaft aufrütteln und verändern. Sie wenden sich gegen Konsum, Verdrängung der Vergangenheit und gegen Tabus. Passend für eine Zeit und eine Gesellschaft, die gerade dabei ist, sich selbst zu therapieren und den Protest zu entdecken. Zum Beispiel bei der Springer-Affäre. Allmählich beginnt man, unbequeme Fragen zu stellen. 1963 werden in Frankfurt die Auschwitz-Prozesse eröffnet. Die Studentenbewegung formiert sich, das Jahr 1968 ist nah.

Ganz anders sieht es zur selben Zeit im Nachbarland Österreich aus. Das Klima ist geprägt von Kommunistenangst und dem Aufrechterhalten des Opfermythos. Die konservative ÖVP erreicht bei der Nationalratswahl die absolute Mehrheit. Eine 68er-Bewegung mit Demonstrationen und Studentenprotesten ist hier nicht in Sicht. Doch am 7. Juni 1968 ereignet sich im Neuen Institutsgebäude der Wiener Universität einer der größten Skandale der Zweiten Republik.

Vor rund 300 Zuschauern und Journalisten bricht der damals 30-jährige Künstler Günter Brus gemeinsam mit anderen Vertretern des Wiener Aktionismus sämtliche Tabus. Nackt wird die österreichische Nationalhymne gesungen, es wird masturbiert, Texte werden rezitiert, die eigenen Exkremente auf dem Körper oder auch auf der österreichischen Flagge verteilt. Die »Kronen Zeitung« prägt anschließend den Begriff der »Uni-Ferkelei«. Günter Brus wird angeklagt, 1969 flüchtet er nach Berlin. Der Wiener Aktionismus ist einer der radikalsten Beiträge zur Entwicklung der Performance-Kunst. Der eigene Körper ersetzt die Leinwand und wird selbst zum künstlerischen Material.

Der inszenierte Kontrollverlust

So gesellschaftskritisch die Ideen und Ziele der Avantgarde-Bewegungen auch waren, darf man doch eines nicht vergessen: Sie waren nahezu allesamt reine Männerbünde. Dann aber erobern sich die Frauen das Feld, die Performance wird mehr und mehr zu einer feministischen Kunst. Yoko Ono, bestens vernetzt mit der New Yorker Avantgardeszene, wird bald zu einer der zentralen Figuren der amerikanischen Fluxus-Bewegung. Vor allem eine Performance macht sie bekannt: »Cut Piece« von 1965. Auf einer Bühne sitzend und mit einer Schere neben sich, überlässt sie es dem Publikum, ihr die Kleider vom Leib zu schneiden. Ein inszenierter Kontrollverlust mit feministischer Setzung. 1966 wiederholt sie die Performance in London. Im Publikum: John Lennon.

Der Rest ist Geschichte. Ikonisch wie kaum ein anderes Bild der Zeit ist das gemeinsame »Bed-In« in einem Amsterdamer Hotel. Eine Aktion für den Weltfrieden. Nach der Ermordung John Lennons 1980 zieht sich Yoko Ono einige Jahre aus der Öffentlichkeit zurück. Erst zum Ende der Dekade beginnt sie, sich wieder an Fluxus-Veranstaltungen zu beteiligen, Ausstellungen und Performances zu machen. Zur gleichen Zeit spült das Fernsehen immer neue Schreckensgeschichten und Kriegsgräuel vom Balkan weltweit in die Wohnzimmer.

So radikalisieren sich auch viele künstlerische Konzepte. Eine, die wie Yoko Ono zur Ikone der Performance-Kunst wird, ist die Serbin Marina Abramovic. Die Idee des Kontrollverlustes, des sich Auslieferns an das Publikum, hat Abramovic bei einer ihrer frühen Performances, »Rhythm 0« von 1974 ihr zu machen, was es wolle, unter Zuhilfenahme von 72 unterschiedlichen Requisiten. Darunter eine Pfanne, eine Schere, Ketten, eine Axt und eine geladene Pistole. So zaghaft die Performance auch begann: Sie eskalierte nach Stunden damit, dass Zuschauer Abramovic die geladene Pistole in die Hand gaben, sie gegen ihren Kopf richteten und ihren Finger um den Abzug legten. Unter den Zuschauern kam es zu Handgreiflichkeiten.

Eine ihrer bekanntesten Performances setzte sich mit der jugoslawischen Heimat und den Balkankriegen auseinander. Bei der Biennale von Venedig 1997 wurde sie für »Balkan Baroque« mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. Über vier Tage saß Abramovic jeweils sechs Stunden lang auf einem Berg frischer Rinderknochen und schrubbte sie sauber. Dazu sang sie Volkslieder aus ihrer Heimat.

Zwischen Pop und Performance

Man könnte fast meinen, das abgeschabte Fleisch der Rinderknochen habe sich Lady Gaga 13 Jahre später um den Leib geschlungen. Ihr »Meat Dress«, das sie bei der Verleihung der MTV Video Music Awards 2010 trug, war eine Kreation aus rohem Rindfleisch.  Entworfen hatte es der Designer Franc Fernandez. Auch wenn man es kaum glauben mag, scheinen sich in Lady Gaga und Marina Abramovic zwei Schwestern im Geiste gefunden zu haben. Beide loten Grenzen aus, ihre eigenen und die ihres Publikums. Zwar ist die US-amerikanische Sängerin eher performende Künstlerin als eine Performance-Künstlerin, aber eine Botschafterin der inszenierten Provokation ist sie allemal, und damit beweist sie, dass die Performance-Kunst ein Teil der Populärkultur geworden ist. Ihre Auftritte, Kostüme, Videos sind stark beeinflusst von allem, was die Kunstgeschichte zu bieten hat.

Eines ihrer erklärten Vorbilder: Elsa von Freytag-Loringhoven. Die fast vergessene »Dada-Baroness« schrieb dadaistische Gedichte, trat als Rezitatorin auf, montierte Fundstücke zu Readymades. Ihr wichtigstes Kunstwerk aber war ihr eigener Körper. Ihre Kostüme waren spektakulär und für die frühen 1920er Jahre mehr als gewagt: Ein Gesäßkissen mit angenähtem Blinker, der Kopf kahl geschoren und rot lackiert, Tomatenmarkdöschen auf den Brüsten oder ein Vogelkäfig mit ausgestopftem Kanarienvogel als Halskette. Ihre Bühne waren die Straßen New Yorks, ihr Motto: »Kein Zugeständnis an den öffentlichen Geschmack.«

Ihr Ruhm währte nur kurz, aber eines kann ihr keiner nehmen: Sie war Lady Dada, lange bevor auch nur irgendjemand an Lady Gaga dachte.

 

Wolfgang Horns Essay »Die Kunst-Revoluzzer« erschien zuerst im »3sat TV- & Kulturmagazin« und ist hier mit freundlicher Genehmigung der Redaktion nachgedruckt. Horn ist Redakteur bei 3sat, seine Spezialthemen sind Theater und Bildende Kunst.