Züge im Nichts
Quelle: Niko Neuwirth©

Optionen für Wandel | Bahnverkehr

Angehängt statt abgehängt

Pläne, die Bahn auf dem Land zu reaktivieren

Immer mehr Städte und Orte aus dem »Umland« wurden in den letzten Jahrzehnten buchstäblich abgehängt. Rund 6.000 von einst 45.000 Kilometern Bahnstrecke sind über zweieinhalb Jahrzehnte hinweg stillgelegt worden. Mittlerweile gibt es Pläne und Initiativen, die Bahn – und damit auch die Menschen – da und dort wieder anzukoppeln. Auch wenn es paradox klingt: Sogar in Corona-Zeiten könnte dies eine gute Idee sein. 

Manchmal ist es aufschlussreich, sich Zahlen anzusehen. Zum Beispiel zum Bahnverkehr in Deutschland. Die gute Nachricht zuerst: Das Schienennetz ist vor Corona im Jahr 2019 gewachsen. Die nicht so gute Nachricht: um sechs Kilometer. Diese Schienen würden gerade ausreichen, um Frankfurt-Sachsenhausen mit Offenbach zu verbinden. Aber gut – da liegen ja bereits Schienen. Weswegen die sechs Kilometer wohl nicht nur für ein paar S-Bahn-Gleise in Frankfurt (tatsächlich), sondern auch noch für zwei Strecken in Brandenburg und Sachsen reichten. Zum Vergleich: Autobahnen wurden im gleichen Zeitraum um 99 Kilometer ausgebaut, Bundesstraßen um fast 150 Kilometer.

Soviel zu Klimaschutz und Verkehrswende, zu denen sich Politiker*innen im Lande immer gerne bekennen. Immerhin hält sich die Deutsche Bahn viel darauf zu Gute, 2019 keine Strecken stillgelegt zu haben. Erstmals seit vielen Jahren. Per Saldo hat die Bahn nämlich in eineinhalb Jahrzehnten rund 2.500 Kilometer Gleisstrecke vom Netz genommen. In den vergangenen 25 Jahren sind sogar über 6.000 der einst fast 45.000 Streckenkilometer stillgelegt worden. Vorteil beim Stilllegen ist allerdings, dass diese Gleise wieder reaktiviert werden können. Städte und Orte könnten wieder an ihre Umgebung und an die urbane Welt drumherum angebunden werden. Experten des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) und der Allianz pro Schiene haben zuletzt rund 4.000 Streckenkilometer ausgemacht, bei denen es sich lohnen würde, sie wieder in Betrieb zu nehmen.

Meist wäre dies im Sinne der Ökologie, zuweilen aber auch aus betriebswirtschaftlichen Gründen gut. Das Ziel: knapp 300 Städte und Gemeinden wieder ans Netz anschließen, die zum großen Teil über die Jahre abgekoppelt worden sind. In Hessen zählten dazu die Kleinstädte Bad Orb, Bad Schwalbach und Homberg (Efze), an dem eine der drei, vier am meisten mit Staus belasteten Autobahnstellen des Bundeslandes liegt. Die Bahn hat zumindest reagiert, Stilllegungen ausgesetzt und ist dabei, Reaktivierungen zu prüfen. Rückenwind kommt aus Berlin, wo neue Gelder zur Finanzierung im Zuge des Klimaschutzes bereitgestellt wurden. Deutschland hat allerdings Nachholbedarf. Nur rund 77 Euro fließen pro Jahr und Kopf der Bevölkerung in die Schiene. In der Schweiz sind dies 365 Euro. Nicht von ungefähr glauben nicht nur Eidgenoss*innen, dass Schweizer*innen eine der besten Bahnversorgungen in Europa haben. Paradoxerweise könnte sogar Corona ein Argument für die Reaktivierung sein. Das Gegenargument, dass die Züge halbleer fahren würden, wäre ja fast schon ein Pluspunkt. Aber vielleicht entdeckt dabei ja mancher Autofahrer die Bahn neu. Expert*innen gehen allerdings auch davon aus, dass alleine das Reaktivieren der Bahnen nicht reicht. Längst weiß man, dass es ein Gesamtkonzept braucht. Mit Park-and-Ride, Zubringer-Bussen oder selbstfahrenden Autos sowie Leihfahrrädern in der Region. Und vielleicht sogar mit jenen E-Rollern, die in der Stadt unsinnig auf den Trottoirs herumliegen … (vss.).

Niko Neuwirth©
Nicht nur in Brüssel: Die neuen Dos and Don'ts der Innenstädte von London bis Leipzig
Quelle: us / Open Clipart©

Blaupause | Innenstädte

Stadtverkehr wie in Brüssel

Die ganze Stadt als Tempo-30-Zone?

Frankfurt führt in Teilen der Innenstadt Tempo 20 ein. Es folgt damit einem Trend: Weltweit beginnen immer mehr Städte, zumindest Tempo 30 flächendeckend auf ihren Straßen einzuführen. In Deutschland hat die Initiative »Lebenswerte Städte« gerade die 1000. Kommune ausgenommen. Ihre Ziele: bessere Luft, weniger Lärm und mehr Lebensqualität …

In Europas Metropole Brüssel trauten im Sommer 2020 viele Menschen ihren Augen nicht – und sich selbst erst einmal längere Zeit auch nicht auf die Straßen im Herzen der Stadt. Mitten in der Hochzeit von Corona hatte die Stadtregierung das Zentrum zur verkehrsberuhigten Zone erklärt, in der auch die verbliebenen Autos nur Tempo 20 fahren durften. Und nicht nur das: Radfahrer*innen und Fußgänger*innen hatten auf rund fünf Quadratkilometern rund um den Grande Place mit seinen alten Gildehäusern Vorrang. Die Straße gehörte zuerst einmal ihnen – vor allem, um mehr Platz für Abstand zu haben. Es dauerte ein wenig, bis auch die Autofahrer*innen »mitspielten«. Der ausgedünnte Verkehr half mit, dies da und dort tatsächlich umzusetzen. Nun war Brüssel wahrlich nicht die einzige Großstadt, die im Sommer 2020 verkehrsberuhigt wurde – teils »von oben«, teils einfach durch Corona. Aber die Brüsseler Stadtregierung fand Gefallen daran. Die EU-Hauptstadt – bisher Eldorado für Autofahrer*innen – beschloss 2021, im ganzen Stadtgebiet Tempo 30 einzuführen; ausgenommen nur Straßen, an denen ausdrücklich anderes beschildert ist. Hintergrund war nun nicht mehr die Abstandswahrung, sondern auch die schlechte Luft in der Metropole. Das mit der Luft wurde Brüssel übrigens kurioserweise quasi von Brüssel ins Pflichtenheft geschrieben. Nämlich von der EU-Kommission um die Ecke …

Mittlerweile sind Tempo-30-Innenstädte Trend – längst fast schon flächendeckend in Großstädten wie Paris oder London. Brüssel hat mit seinen strengen Regeln in Sachen Luft zahlreiche Metropolen angestoßen, gibt es doch kaum noch eine europäische Großstadt, in welcher Jahrzehnte des Credos »autogerechter Stadt« Luft und Lebensqualitäten nicht deutlich in Mitleidenschaft gezogen haben … (mehr lesen)

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Auch Kindern gehört die Stadt! Die Wiesbadener Wellritz-Straße, die vor einiger Zeit verkehrsberuhigt wurde
Quelle: Zeichnung: Sibylle Lienhard©

Impulse | Kidical Mass

Kids statt Kotflügel

Kommentar von Katharina Knacker

Früher konnten Kinder noch auf den Straßen spielen und alleine zur Schule fahren oder laufen. Auch heute ist dies möglich. Allerdings wegen vieler Autos an und auf den Straßen ungleich gefährlicher. Katherina Knacker und die Initiative »Kidical Mass« fordern deshalb wieder mehr Platz und Sicherheit für Kids auf den Straßen, mit einer Neuverteilung des Raums und »Tempo 30« in Städten. Dafür macht »Kidical Mass« regelmäßig Fahrrad-Demos für Kids in Frankfurt und in anderen Städten.   

In der Führerscheinprüfung gibt es die Frage 1.1/02-112: »In einem Wohngebiet rollt ein Ball vor ihr Fahrzeug. Wie müssen sie reagieren?«. Die (einzig mögliche) Antwort: »Bremsen«. Warum? Weil Kinder hinter dem Ball her rennen könnten. Diese Frage beantworten jährlich tausende Fahrschüler*innen, obwohl Kinder, die im Straßenraum Ball spielen, kaum noch zu finden sind. Vor wenigen Jahrzehnten war es noch möglich, sich spontan mit den Nachbarskindern vor der Haustür zu treffen. Heute ist dieser Platz durch immer mehr parkende Autos fast verschwunden. Und durch schnell fahrende Autos ist das auch viel zu gefährlich geworden für die Kids. Mit ein Grund zudem, dass sich laut WHO im Jahre 2019 80 Prozent der Kinder in Deutschland zu wenig bewegt haben …

Dabei wäre alles sehr einfach. Eine gerechtere Platzverteilung im Straßenraum und generell Tempo 30 innerorts könnten unsere Städte auch für unsere Kinder wieder lebenswerter machen. Bei Tempo 30 passieren erwiesenermaßen weniger Unfälle und weniger schwere Unfallfolgen. Autofahrer*innen nähmen mehr Rücksicht auf Kinder, Gefahren könnten besser erkannt werden, es gäbe zudem weniger Lärm und Abgase. Dabei erhöht sich die Fahrtzeit im Gegensatz zu Tempo 50 nur geringfügig. Mit »Kidical Mass« demonstrieren wir mehrfach im Jahr, was möglich wäre. Mit Hunderten Kids radeln wir eine Stunde lang im kinderfreundlichen Tempo quer durch die Stadt. Start ist meist an Orten wie der Alten Oper oder dem Mainkai. Ziel sind Parks, an denen alle gemeinsam den Tag ausklingen lassen können. Ein Erlebnis immer wieder – für Kids, Familien und Freunde. Der Kinder-Fahrrad-Korso – der seit 2020 auch bundesweit stattfindet – ist allerdings eine angemeldete Demonstration, wird von der Polizei geschützt, und erfahrene Ordner*innen sichern Straßen und Kreuzungen. Denn normal ist es für Kids leider auch an einem Sonntag nicht, so sorglos durch eine Stadt wie Frankfurt zu radeln.

»Normal« ist in unseren Städten leider anderes. Aktuell toleriert unsere Gesellschaft »Blitzer-Meldungen«, die Autofahrer*innen nicht daran erinnern, dass es kein Kavaliersdelikt ist, zu schnell zu fahren, sondern davor warnen, wo sie für zu schnelles Fahren eine Strafe erhalten könnten. Auch das Parken an Kreuzungen oder Zebrastreifen ist gang und gäbe – obwohl es verboten und eine besondere Gefahr für kleine Menschen ist, die von den parkenden Autos beim Queren der Straße verdeckt werden. Von den vielen sonstigen Autos am Straßenrand mal ganz abgesehen. Während Anfang der 70er Jahre noch 92 Prozent der 6- bis 7-Jährigen selbständig zur Schule gingen, waren es 2018 nur noch 43 Prozent. Immer mehr Kinder werden von den Eltern mit dem Auto zur Schule gefahren. Mit teils paradoxen Folgen: noch mehr Verkehr und vor den Schulen immer mehr gefährliche Situationen und Unfälle. Kommen Kinder hingegen zu Fuß, mit Roller oder Rad zur Schule, haben sie sich morgens schon bewegt, können sich besser konzentrieren und hatten schon schöne Erlebnisse mit Freunden oder Eltern, die sie begleiteten. Genauso paradox: Während die Anmeldungen in Sportvereinen immer mehr steigen, können Kinder immer weniger selbstständig zu diesen oder an andere Orte gelangen. Alles gute Gründe, mit neuen Regeln und bei der Neuverteilung des Platzes in den Straßen mehr an die Kinder zu denken. Denn auch ihnen gehört die Stadt! Und wir waren da schon mal weiter – wie die Fragen in den Führerscheinprüfungen belegen …

Zukunft des Verkehrs

Der Blick von unten

Wie Kids sich Mobilität wünschen

Die Stadt Frankfurt arbeitet derzeit mit ihren Bürger*innen einen »Masterplan Mobilität« aus. Teil der Bürger*innen-Beteiligung waren auch Planspiele und Befragungen an Schulen. Gemeinsam mit dem Verein »Umwelt lernen« wurden an 35 Schulen fast 1.800 Kids einbezogen. Die Vorstellungen der Schüler*innen präsentierten sich in eigenen Schaubildern, umfangreichen Auswertungen sowie einem eigenen Podium beim 3. Frankfurter Mobilitätsforum 2022.  

Gut, ein Wunsch Frankfurter Schülerinnen und Schüler wird sich nicht so leicht erfüllen: dass Autos und E-Roller sich einfach in Bäume verwandeln. Doch sonst haben fast 1.800 Kids, die sich in 35 Schulen an einem Planspiel zur künftigen Mobilität in der Mainmetropole beteiligt haben, nicht nur klare und naheliegende, sondern auch realisierbare Vorschläge. Und das erstaunlich differenziert und begründet. Ganz oben auf allen Listen: günstigere ÖPNV-Tickets, mehr Grün in der Stadt und vor allem mehr Platz und mehr Sicherheit für nicht motorisierte Verkehrsteilnehmer*innen. »Wenn mehr mit dem Bus fahren, ist mehr Platz auf den Straßen«, war ein Argument, warum Tickets günstig oder kostenlos sein müssten. Und zwar nicht nur für Oberstufen-Schüler*innen, die überraschenderweise oft ihre Tickets selbst bezahlen müssen. Genauso wichtig ist ihnen die Sicherheit am Straßenrand, »weil Autos oft zu schnell sind«. Also Brücken statt Zebrastreifen, längere Grünphasen an Ampeln, Schwellen vor Überwegen, mehr Kreisel oder breitere und baulich abgetrennte Radwege. Und: weniger Mülltonnen dort, weil sie – völlig überraschend – die Sicht verdecken.

Da Kids durchaus eine ganz andere Sicht auf den Verkehr haben, bekamen sie auch beim 3. Frankfurter Mobilitätsforum Mitte 2022 im Haus am Dom eine eigene Ausstellung mit »ihren« Ergebnissen (s. Bildergalerie) und eines von drei Podien alleine für sich. Und auf dem Podium zeigten alleine zwölf Schüler*innen aus vier Schulen sehr schnell, was ihnen wichtig ist. Nicht nur der Blick auf den Verkehr stand im Fokus: mehr Bäume, mehr Blumen, »straffreies Urban Gardening«, überhaupt mehr Grün und Plätze zum Spielen und »zum Abhängen« (nicht nur für sich), forderten sie ganz allgemein ein. Aber auch beim Blick auf die Straße(n) gab es Prioritäten: weniger Autos auf der Fahrbahn und am Straßenrand, bis hin zu einer völlig autofreien Berger Straße. Und immer mit einem besonderen Blick für die Schwächeren: Erstaunlich viel Raum bekamen Hilfen für Rolli-Fahrer*innen und Blinde (»Die können ja nichts für ihre Behinderung. Deshalb müssen wir uns für sie einsetzen.«). Zwischendrin auch die Forderung nach weniger Ausgrenzung von Obdachlosen. Null Verständnis gab es für schmale Gehwege und vor allem für herumliegende E-Roller. Doch nicht nur diese Art von »Müll« würden Kids gerne aus dem Stadtbild verbannen. Auch sonst ist es ihnen viel zu viel Unrat auf und neben den Straßen. Und auch Busse und Bahnen bekommen ihr Fett weg. Die Kids, die schon quasi »von Berufs wegen« Busse, Bahnen und Fußwege nutzen, finden es überall zu dreckig, wünschen sich weniger klebrige Kaugummis sowie Busse, Bahnen und Gehwege, bei denen es mehr Spaß mache, sie auch zu benutzen. Denn eines ist auch ihnen erstaunlich klar: Es reicht nicht, nur einfach mehr Menschen in den ÖPNV, auf Rad- und Fußwege zu bringen. Diese müssten auch in der Lage sein, sie aufzunehmen. Ach ja, und an noch jemanden denken die Schüler*innen. Kostenlos müsse nicht alles sein. Denn auch die, die dort im ÖPNV und bei der Straßenreinigung arbeiteten, »müssen ja auch was verdienen …«. Manchmal hatte man das Gefühl, dass auf Podien ein »Blick von unten« auf den Verkehr öfter nicht unbedingt schaden würde … (vss.).

Zeichnung: Sibylle Lienhard©
rmv macht erfinderisch ...
Quelle: Barbara Walzer©

Behinderte Mobilität

Unser täglich’ Umweg

Für Behinderte ÖPNV oft Glückssache

»Sind Sie sicher, dass Sie aus der Bahn später auch wieder rauskommen?«. Wer beim Einstieg in der Straßenbahn vom Fahrer erst einmal diese Frage hört, stutzt wohl zuerst einmal. Wer allerdings gerade versucht, mit einem Rollstuhl in die Straßenbahn zu kommen, könnte diese Frage schon öfter mal gehört haben. In der Tat ist es für Rollstuhlfahrer*innen keineswegs sicher, aus jeder Bahn, in die sie eingefahren sind, auch wieder herausrollen zu können. Bei zahlreichen Straßenbahnen gelangt man mit einem Rollstuhl nicht so leicht vom »Einstieg« auf einer Seite zum (späteren) »Ausstieg« auf der anderen, da diese oft nicht gegenüber liegen. Nicht selten ist da dann ein Umweg von mehreren Stationen nötig, um wieder aussteigen zu können. Da verbuchen es Rolli-Fahrer*innen schon als »freundlich«, wenn der Fahrer eigens ankam und sie darauf aufmerksam machte …

Oft reicht es, sich mit einem einzigen »Menschen mit Mobilitätseinschränkung« zu unterhalten (oder sich mit ihm auf den Weg durch die Stadt zu machen), um genug Stoff für Artikel wie diesen zu erhalten. Dass ebensolche Menschen mit Einschränkungen – also etwa Blinde und Rolli-Fahrer*innen – im ÖPNV oft noch weitere Einschränkungen gratis zu ihrem Alltag hinzu bekommen, ist keine Seltenheit. Paradox daran ist, dass das (Personenbeförderungs-) Gesetz seit 1. Januar diesen Jahres vorschreibt, dass es viele solche Behinderungen gar nicht mehr geben dürfte. Bahn- und Busangebote sollten etwa seit diesem Datum weitgehend barrierefrei sein. Immerhin: In Frankfurt muss nur noch eine U-Bahn-Station komplett barrierefrei umgebaut werden (die Station am Niddapark). Die schlechte Nachricht: Es müssen noch ungefähr die Hälfte der 717 Bus- und der 137 Straßenbahnstationen im Stadtgebiet angepasst werden. Da man aktuell nur rund 20 Stationen pro Jahr schafft, lässt sich leicht ausrechnen, wie viele Jahre bis Jahrzehnte es noch dauert, bis Blinde, Gehbehinderte und sonstig mobilitätseingeschränkte Personen in der Mainmetropole zumindest theoretisch uneingeschränkt am ÖPNV teilnehmen können. Theoretisch deshalb, weil dies auch voraussetzen würde, dass alle Aufzüge und Rolltreppen funktionieren, alle Einstiegsklappen für Rollis in Bussen ebenso und dann vielleicht auch noch die neuen Rufbusse an die Vorschriften angepasst sind. Von letzteren gibt es beispielsweise drei im Frankfurter Norden. Genau einer davon ist behindertengerecht. Wenn der einmal in der Wartung ist, gibt es eben keinen …

Die ehemalige Behinderten-Vertreterin im Frankfurter Fahrgastbeirat, Petra Rieth, sprach denn auch mal von einem »Schweizer Käse«: Substanz, aber viele Löcher. Ihr Nachfolger, Hannes Heiler, sieht immerhin leicht sarkastisch einen »Fortschritt«: Es habe sich einiges getan. Man könne nicht mehr einfach nur kritisieren, sondern müsse heute »differenziert kritisieren«. So bemerkt er schon, dass die Frankfurter Verkehrsgesellschaft VGF sehr bemüht sei. Abenteuerlicher werde es, wenn man in die Region wolle. Vor allem dann, wenn die Deutsche Bahn beteiligt sei. Da gäbe es nicht wenige Aufzüge und Rolltreppen, die über Wochen unbenutzbar seien. Doch auch in Frankfurt liegt vieles im Argen. Zwar sind neue Waggons vorhanden oder bestellt, um künftig Rollstühlen, Kinderwagen und Fahrrädern (deren Besitzer*innen sich alle im gleichen Raum arrangieren müssen) mehr Platz zu geben. Allerdings gibt es noch einige Dutzend Straßenbahnen, bei denen man manchmal eben nur einsteigen könne. Hinzu kommt ein halbes Dutzend »Hochflurwagen«, also solche mit Treppen als ausschließlichem Einstieg. Alle diese Waggons sollen allerdings ab Dezember nach und nach ersetzt werden. Auch bei Bus- und Bahnfahrer*innen gäbe es solche, die auch mal warten oder mehr als nur pflichtgemäß beim Einstieg helfen. Aber halt auch einige, die nicht nahe genug für Behinderte an den Bordstein ranfahren. Tricky auch die neuen autonomen Gefährte, die oft viel zu schnell losführen, bevor sich Blinde überhaupt mal sortiert hätten. Und Rolli-Fahrer*innen? Dürfen vorerst noch gar nicht mit ihnen mitfahren. Auch gäbe es durchaus zahlreiche Stationen, die Blindenleitstreifen oder gute Einstiege für Rollstuhlfahrer*innen haben. Doch ausgerechnet die Großen wie Haupt- oder Konstablerwache seien »ein Graus für Blinde«. Orientierungshilfen quasi null. »Klingt ja auch besser«, so Heiler, »wenn man vermelden könne, fünf (kleine) Stationen umgebaut zu haben als eine große …«. Was dieser »Schweizer Käse« für Behinderte konkret bedeute, beschreibt Heiler am Beispiel Galluswarte. Wer dort mit der engen und unkomfortablen Straßenbahnstation nicht zurechtkäme, müsse stadteinwärts bis zum Platz der Republik für eine weitere behindertengerechte Station weitergehen oder -fahren (letzteres allerdings dann ohne Bahn). Sind ja auch nur zweieinhalb Kilometer … Doch wie gesagt: Verlässt man die Stadt, sieht es oft noch schlechter aus, wird der Ausflug in die Region und ins Grüne »schnell zum Abenteuer«. Gesetze hin, Gesetze her … (sfo.).

Barbara Walzer©
Die roten Pfeile sind in Italien die neuen Flugzeuge
Quelle: Mikhail Shcherbakov • CC BY-SA 2.0 (s.u.)©

Blaupausen | Italiens Bahnen

Wenn Bahnen fliegen …

Gute Züge ersetzen Flieger von selbst

Dass Fliegen ein »Klimakiller« ist, ist selbst Vielfliegern klar. Dass auf Kurzstrecken die Bahn eine Alternative ist, bestreiten auch wenige. Doch das Umsteigen mit Verboten zu erreichen, greift oft zu kurz. So gut wie angepriesen sind viele Alternativen nicht. Italien zeigt, dass zu einem nachhaltigen Umsteigen anderes wichtiger wäre. Zum Beispiel: eine konkurrenzfähige Bahn. Oder besser gleich zwei davon. 

Das Fliegen auf Kurzstrecken kann man sich wunderbar schön- und auch schlechtrechnen. Vor drei Jahren etwa hat der Bundesverband der Deutschen Luftverkehrswirtschaft – schon am Namen leicht als Lobbyist zu erkennen – für die Kurzstrecken-Konkurrenz Bahn-Flugzeug mal das unschlagbare Beispiel Hamburg-Nürnberg aufgerufen: achteinhalb Stunden mit der Bahn versus knapp zweieinhalb mit dem Flieger. Auch die Luftikusse des BDL haben zumindest verschämt noch »reine Fahr- bzw. Flugzeit« angefügt, aber doch den Unterschied vor allem Geschäftsreisenden mit drohenden Übernachtungen und Überstunden als kaum zumutbar herausgearbeitet. Aber auch unterschlagen, dass das Ganze mit An-, Abfahrts- und Wartezeiten nicht mehr ganz so rosig aussieht. Und erst recht mit anderen Flughäfen (wobei es nicht gleich der in Berlin mit vier Stunden Vorlauf sein muss). Genauso schön hat sich dieser Tage Greenpeace die Alternativwelt der Bahn gerechnet. Rund zehn Prozent aller europäischen Kurzstreckenflüge sei in zwei Stunden mit der Bahn zu machen, nochmals knapp 20 Prozent unter sechs Stunden und weitere 15 Prozent mit Nachtzügen. In Deutschland ließen sich damit über 50 Prozent, in Österreich sogar über 80 Prozent der Kurzstrecken ersetzen.

Klingt plausibel. Aber auch gut? Zwei mal sechs Stunden Fahrt hin und zurück sind nun auch nicht gerade der (terminliche Zu-) Bringer. Bis zu 90 Prozent weniger CO2-Ausstoß ist schon eher ein Argument. Doch die Alternative Bahn würde eine noch bessere Alternative, wenn es mehr gute Gründe gäbe. Der Blick nach Italien – oder zumindest in einen lesenswerten Artikel der Neuen Zürcher Zeitung dieser Tage (s.u.) – könnte hier ein Fingerzeig sein. In Italien hatte im Oktober die einst stolze Fluggesellschaft Alitalia ihren letzten Flug. Nicht, weil man ihr Flüge verboten hatte. Sondern weil sie – vereinfacht gesagt – Pleite war. Zugegeben: Gründe waren auch Corona und ein Missmanagement auf Langstreckenflügen. Doch zum Niedergang trug auch das Wegbrechen des Inlandsgeschäftes maßgeblich bei. Und das trug einen Namen: »Le Frecce«, die »Pfeile«. Seit 2008 ist die Bahngesellschaft Trenitalia mit ihren so genannten Hochgeschwindigkeitszügen unterwegs – und eroberte in gut einem Jahrzehnt Passagier*in um Passagier*in. Paradestrecke ist die Verbindung Rom – Mailand. Die Frecce schaffen sie in drei Stunden. Mit dem Flieger dauert es von Innenstadt zu Innenstadt rund vier Stunden. In der Zeit ist man von Mailand mit dem gleichen Zug schon bequem in Neapel. Entsprechend entwickelten sich die Zahlen: Während das Flugzeug auf der Strecke binnen eines Jahrzehnts knapp zwei seiner einst drei Millionen Passagier*innen verlor (kleine Konkurrenten der Alitalia inbegriffen), gewann der Zug von einer auf rund dreieinhalb Millionen dazu. Und das Gleiche gilt für das gesamte Hochgeschwindigkeitsnetz: In zehn Jahren steigerten die »Pfeile« die Passagierzahl auf ihren Strecken von 6,5 auf 40 Millionen Menschen. Hinzu kommt, dass die Frecce in Italien nicht alleine unterwegs sind. »Italo« heißt neben Trenitalia ein zweiter Akteur mit Hochgeschwindigkeitszügen. Willkommener Nebeneffekt für die Reisenden: Die Preise sind überschaubar. Ergebnis: Im Inland konnte Alitalia, die vor zwei Jahrzehnten noch fast ein Drittel ihres Umsatzes mit solchen Flügen machte, zum Schluss eigentlich nur noch auf den Strecken zu Inseln wie Sardinien punkten. Apropos Punkten: Ein bestens ausgebautes eigenes Netz sorgt bei den Bahnen zudem für eine Pünktlichkeit, welche die Deutsche Bahn zuverlässig nur einmal im Jahr schafft – wenn immer ab dem zweiten Dezember-Sonntag neue Preise gelten. Nicht von ungefähr hat die Regierung in Rom im europäischen Post-Corona-Aufbau-Plan auch einen weiteren zweistelligen Milliardenbetrag für den Ausbau dieser Hochgeschwindigkeitsstrecken vorgesehen. Nach über 30 Milliarden Euro, die bisher bereits in dieses Netz gesteckt wurden. Ein Beispiel dafür, dass es oft ausreicht, die umweltfreundlichen Alternativen konkurrenzfähig zu machen. Und das war noch, bevor für das Fliegen CO2-Abgaben ins Gespräch kamen (sfo.).


Was fehlt? Ein Display, das alle Verbindungsoptionen an dieser Stelle auf einen Blick zeigt ...
Quelle: us / OIMD©

Impulse | ÖP(N)V als Alltag

Einmal Mittelmeer, bitte

Gastbeitrag von Peter Eckart (OIMD)

Wenn die Tage grauer werden, kommt schnell mal der Wunsch nach einem Abstecher ans Mittelmeer auf. Erster Reflex: einfach ins Auto steigen. Zweiter Reflex: weit, anstrengend, teuer. Praktischer wäre: mitten in Frankfurt, Musterschule zum Beispiel, in die U-Bahn, am Hauptbahnhof in den Zug, flugs nach zum Beispiel Marseille und dann noch mit der Tram ans Meer. Am besten freitagmittags los, abends dort sein – und alles für ein paar Euro. Geht nicht? Geht doch! Die Formel: U5 plus TGV (Frankfurt Hbf – Marseille Saint-Charles) plus M1 zum Alten Hafen. Abfahrt etwa 13.30 Uhr, Ankunft etwa 23.30 Uhr. Kosten: mit etwas Glück um die 50 Euro. Das Problem: Viele Menschen haben eine solche Möglichkeit gar nicht auf dem Schirm. Genauso wenig, dass das Gleiche auch – mit höchstens ein Mal mehr umsteigen, aber bestenfalls einem Stündchen mehr Vorlauf – auch vom Darmstädter Martinsviertel, dem Offenbacher Mathildenviertel oder von Mainz-Mombach aus ginge. Und genauso einfach wäre es umgekehrt, von Roms Via Appia an fast jeden Punkt im Rodgau oder von Berlin-Kreuzberg nach Bürgel zu kommen …

Zugegeben: Die letzten Beispiele setzen schon einiges an Vorstellungskraft voraus. Doch eigentlich reicht bereits ein Umdenken: bei Menschen und Mobilitätsanbietern. Beginnen wir beim Menschen. Also bei uns. Was es zunächst braucht, ist ein Umdenken und die Bereitschaft, sich vom Gewohnten zu verabschieden: von dem Gedanken, jedes Mobilitätsbedürfnis mit dem Auto zu erledigen. Zugegeben, das ist nicht ganz einfach. Die Vielzahl der Mobilitätsangebote jenseits des eigenen Autos ist komplex:  Straßenbahnen, U-Bahnen, S-Bahnen, Busse, Taxen, das Sharing von Autos, Fahrrädern und Scootern, regionale und überregionale Zugverbindungen und nicht zuletzt das Zu-Fuß-Gehen. Sie alle müss(t)en jedoch als zusammenhängendes, leicht verknüpfbares System gedacht und verstanden werden. Wir müss(t)en gewissermaßen eine neue Sprache mit eigener Grammatik lernen, um dieses System verstehen und alle Angebote ähnlich schnell wie bei dem eigenen Auto nach unseren Bedürfnissen miteinander verknüpfen zu lernen.

An dieser Stelle kommt das zweite Umdenken ins Spiel, denn alleine schaffen wir das kaum. Auch Mobilitätsanbieter und -vermittler müssen da noch einiges an Umdenken leisten. Grundsätzlich nämlich wäre jede Busstation im Rhein-Main Gebiet ein Mobilitätszentrum, von dem aus man eigentlich ohne Probleme und ohne viele Umstiege den Weg nach Barcelona, Berlin oder Buxtehude finden sollte. Doch an der Station selbst finden wir oft nur ein paar dürftige Informationen für die einzelne Linie, keinen Hinweis auf den Scooter oder den Fahrradverleih um die Ecke – und der Netzplan ist auch noch viel zu klein. An der (nächsten) S-Bahn-Station oder am Hauptbahnhof finden wir dann schon wieder ein anderes Informationsdesign mit einer – um das Bild nochmals aufzunehmen – anderen Grammatik. Leider sind auch die Apps der Anbieter und sogar scheinbare Über-Apps spezialisierter Vermittler da oft kaum hilfreich. Schon das simple Verknüpfen digitaler Informationen und die kombinierte Buchung unterschiedlicher Angebote scheitert oft an Apps, die nur Ausschnitte abbilden und obendrein vielfach nicht miteinander korrespondieren. Die Fülle an digitalen oder analogen Informationen, in denen eigentlich unser Weg zu finden wäre, korrespondieren oft genug einfach nicht miteinander.

Wie also sollen wir dann selbst eine Vorstellung vom Gesamten entwickeln? Davon, dass Rom tatsächlich direkt mit dem Rodgau, Bürgel mit Berlin oder die Musterschule mit dem Mittelmeer verbunden sind? Was es also braucht, ist ein Umdenken bei den vielen und unterschiedlichen Mobilitätsanbietern, bei den Verkehrsverbünden, den städtischen kommunalen Verkehrsbetrieben und auch den privaten Sharing-Unternehmen aller Art, dass sie nur gemeinsam und gemeinsam wahrgenommen wirklich stark und eine Alternative sind. Was es also braucht, sind erstens mehr übergreifende oder zumindest transparent auf den Wissensfundus anderer zugreifende Apps sowie zweitens ein gleichsam einfacheres wie umfangreicheres Informationsdesign an den vielen Mobilitätsstationen vom Hauptbahnhof bis zur letzten Busstation, das uns quasi von selbst von der Musterschule bis ans Mittelmeer geleitet. Warum? Damit auch wir das genauso einfach verstehen wie das Einsteigen und Fahren mit dem eigenen Auto – und endlich damit anfangen, umzudenken. Dann sollte nämlich am Ende sogar eine Strecke wie Glashütten – Glasgow eigentlich keine allzu große Herausforderung mehr sein …