Vier Kunstwerke von vier dänischen Künstler*innen an vier öffentlichen Orten in Kopenhagen
Quelle: Rådet for Visuel Kunst / Sebastian Quedenbaum©

BLAUPAUSE KULTUR | Dänemark

Kopenhagens kommunale Kunstkäufe

Wie die Stadt seit langem lokale Künster*innen fördert

Seit 2010 arbeitet Sebastian Quedenbaum als Administrator und Kurator des Rådet for Visuel Kunst, der städtischen Kunstsammlung der Stadt Kopenhagen. Das Besondere an der Sammlung: Sie wird nicht in einem White Cube oder in einem Museum präsentiert, sie bringt ihre gestammelte Kunst direkt in den Kontext städtischer Einrichtungen. Das kann das Jobcenter, die städtische Bibliothek oder eine kommunale Einrichtung für betreutes Wohnen sein. So blickt man etwa an einer Bürowand des Stadtarchivs unvermittelt auf eine recht eigenwillige Skulptur mit zwei Beinen. »Vesterport with Legs« stammt vom dänischen Künstler Sebastian Hedevang und ist seine Interpretation des berühmten dänischen Stadtportals Västerport bei Kalmar. In einer anderen Ecke von Kopenhagen, in einem Zentrum für neurodiverse Menschen, dienen Kunstwerke hingegen den Nutzer*innen dazu, sich in dem architektonisch recht gleichförmig gestalteten Gebäude besser orientieren zu können. Wohl nicht nur Quedenbaum findet, dass in Dänemark bei der Gestaltung von öffentlichen Einrichtungen viel Liebe zum Detail beweisen wird … (mehr lesen).


Selbst im Winter ein Blickfang im verschneiten Park
Quelle: Kultur einer Digitalstadt©

Orte & Menschen | Darmstadt

Digital-Biotop zwischen Bäumen

Die versteckt-innovative Kultur der Digitalstadt

Zu bestimmten Zeiten erfuhr Darmstadts Kulturleben einen Schub mit Strahlkraft. So in den 1920er Jahren mit Literatur, Theater, Kunst des Expressionismus. Oder in den 50er bis 70er Jahren, als die Tage für Neue Musik, kühne Bühneninszenierungen sowie Ausstellungen betont zeitgenössischer Kunst den Anschluss an die internationale Moderne ermöglichten. In einer neuen Ära und mit veränderten Medien möchte in dem mittlerweile »Wissenschaftsstadt« geheißenen Darmstadt der ambitionierte Verein »Kultur einer Digitalstadt« einen ebensolchen Schub mitgestalten – kurioserweise im ziemlich analog-idyllischen Umfeld auf der Darmstädter Rosenhöhe. 

Es ist fast eine Annäherung im Zeitraffer. Der Weg zum LEW1 – das Kürzel steht für die Adresse Ludwig-Engel-Weg 1 – führt erst einmal durch ein altehrwürdiges Baudenkmal: das wuchtige Löwentor des Jugendstil-Künstlers Bernhard Hoetger, eines der mächtigen Portale zur ansonsten eher beschaulich-weitläufigen Darmstädter Parkanlage Rosenhöhe unweit der Mathildenhöhe. Gleich nach dem Portal der nächste Zeitsprung: über einen kleinen Seitenweg neben der alleenhaften Hauptachse des Parks gelangt man zu diesem LEW1 mit seiner selbst mittlerweile fast historischen Bausubstanz. Es ist einer nämlich von sieben 1967 eingeweihten, architektonisch identischen Wohn-Atelier-Komplexen, mit denen die Stadt Kulturschaffende hier mitten im Park ansiedelte. Puristisch-strenge Atelierhäuser mit viel Glas, kleinem Wohn- und großzügigem Arbeitstrakt, die Literat*innen, Maler*innen, Bildhauer*innen ein Zuhause gaben – der Ansatz zu einer »Künstlerkolonie 2.0« sozusagen. Und in dem – man hat fast schon das Bild einer russischen Matrjoschka vor Augen – heute wiederum der Verein »Kultur einer Digitalstadt« zu Hause ist mit »einer Plattform für künstlerische Forschung, fachübergreifende Diskussionen und kulturelle Vernetzung in der Digitalstadt Darmstadt«. So zumindest die Selbstdarstellung des kleinen Vereins rund um die beiden Fotografen und Medienkünstler Albrecht Haag und Lukas Einsele … (mehr lesen).

Kultur einer Digitalstadt©
Das MUDAM - ein Zentrum für Kultur und Kulturschaffende in Luxemburg.
Quelle: Jean-Noël Lafargue • CC BY-SA 3.0 (s.u.)©

Blaupause Kultur | Luxemburg

Großherziges Grundeinkommen

Großherzogtum sichert seine Kulturschaffenden ab

Eigentlich ist es ein ganz normales Künstlerleben, wie das so vieler Künstler*innen an vielen Orten in Europa. Paul Schumacher ist Videokünstler und lebt in Luxemburg. Sein Metier ist die Event-Kunst, als VJ und mit Video Mapping hat er sich einen Namen gemacht. Seine Arbeiten zeigt er vor allem im kleinen Großherzogtum selbst: Projektionen im öffentlichen Raum, Kooperationen mit Bühnen, in Theatern oder beim Tanz. Er bespielt renommierte Orte wie die Philharmonie und das »Mudam«, das Museum für zeitgenössische Kunst. Und er arbeitet mit internationalen DJs wie Sven Väth, Westbam oder Tomcraft. Doch ganz normal werden viele Kolleg*innen das Künstlerleben des Paul Schumacher nicht empfinden – zumindest nicht außerhalb des kleinen Fürstentums. Schumacher kann es nämlich entspannt angehen. Bereits seit zehn Jahren nutzt er eine Luxemburger Besonderheit der Kulturförderung: die Möglichkeit, sein Einkommen mittels einer speziellen Sozialhilfe für Kulturschaffende aufzustocken. Das sichert ihm immer ein Grundeinkommen von rund zweieinhalbtausend Euro. Auch dann, wenn – wie in diesem Metier üblich – die Einnahmen schwankend sind. In manchen Monaten jagt ein Event das andere, in anderen sind nur wenige Tage des Kalenders belegt. Der Künstler aber hat die Sicherheit, immer sein Existenzminimum zu erreichen und zuweilen auch einmal bezahlten Urlaub machen zu können. Und das Ganze ist auch akzeptiert: Er muss dafür nicht angestellt sein. Anders als in Deutschland, wo Jobcenter ausschließlich in sozialversicherungspflichtige Jobs vermitteln, ist es in Luxemburg möglich, als Kreative*r einfach freiberuflich tätig zu sein und eine Aufstockung zu erhalten. Und das auch über lange Zeiträume … (mehr lesen).


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Quelle: Günther Dächert©

Ausstellung / Porträtreihe

Wohnen im / mit / ohne Atelier

Annäherungen an das Leben von Künstler*innen

Wie wohnen, wie arbeiten, wie leben Kulturschaffende heutzutage? Dieser Frage geht eine Porträtreihe in Form von Ausstellungen und Artikelserien über Künstler*innen nach. Die Ausstellung »Lebt und arbeitet in …« und die Reihe »Künstler*innen. Leben. Orte.« sind eine Koproduktion zwischen »Urban shorts – Das Metropole Magazin« und dem Frankfurter »Heussenstamm. Raum für Kunst und Stadt«. Gemeinsam nähern sich die Porträts in Fotos von Günter Dächert (die im Herbst 2021 und im Sommer 2022 im Heussenstamm zu sehen waren) und Texten von Urban shorts-Autor*innen (die nach und nach auf dieser Seite erscheinen) dem Leben, dem Wohnen und dem Arbeiten von vorerst zwei Dutzend Künstler*innen aus der Region an. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf Orten. Auf Städten, in denen die Künstler*innen leben. Auf Wohnungen, in denen sie arbeiten. Auf Ateliers, in denen sie wohnen (müssen). Auf temporären Orten, die sie suchen oder die sie bespielen. Es geht in Altbauwohnungen und Hinterhofateliers, in Remisen und Reihenhäuser, in Atelierhäuser oder auch schlicht in die Denkräume in den Köpfen der Künstler*innen. Aktuell sind alle erschienenen Porträts auf den Seiten ART(S) und FOR.ARTISTS zu lesen (red.).


Setareh Alipour: Auf der Suche nach Räumen
Quelle: Günther Dächert©

Künstlerinnen. Leben. Orte. [2]

Setareh A. – die Improvisierende

Von Orten, Chancen und Leben im Augenblick

Vielleicht war die Ausstellung vor ein paar Wochen auf dem grünen Rasen des Offenbacher Büsingparks jene, die am meisten über Setareh Alipour verrät. Es ging um Alltags-Rassismus, um die Erfahrungen junger Menschen, zusammengetragen vom Fotografen Zino Peterek, kuratiert für nur diesen einen Tag von Alipour mit Fotos und Texten, die an den Bäumen hingen und die Geschichten dieser Menschen mit deren eigenen Worten erzählten. Orte der Kunst und der Kultur können überall sein, sagt Alipour dazu. Orte des Lebens wohl auch. Setareh Alipour ist Kunstschaffende und Ausstellungsmacherin. Die 26-Jährige studiert derzeit an der »HfG« in Offenbach experimentelle Raumkonzepte sowie Akt- und konzeptionelles Zeichnen. Ein klassisches Atelier, in dem sie Ideen umsetzt, hat sie nicht. Sie nutzt einen Raum an der Hochschule. Gleiches mit der Wohnung. Ein Zimmer bei ihrer Mutter in Sachsenhausen, zu der sie nach einem Aufenthalt in Berlin vor vier Jahren wieder zurückgezogen ist, ist ihr Zuhause und auch einer der Orte, an dem sie Ideen für ihre künstlerische und kuratorische Arbeit entwickelt. Es sei aber nicht ihr Jugendzimmer, sagt sie und lacht. Das Wohnen bei ihrer Mutter – das sei heute eher wie in einer guten Wohngemeinschaft. Dass es aber für die Studentin im teuren FrankfurtRheinMain auch mit Geld zu tun hat, verhehlt sie in ihrer direkten Art nicht.

Seit 2013 – lange bevor sie 2019 mit ihrem Kunststudium begann – kuratiert Alipour Ausstellungen. Bisher stets Einzelausstellungen, ganz gleich ob mit einzelnen Kunstschaffenden oder einem Künstlerkollektiv, und immer an Orten, die ihr temporär in Frankfurt und Offenbach zur Verfügung standen: »Off Spaces«, also Orte außerhalb klassischer Ausstellungsräume wie Museen und Galerien. Es sei der Wechsel zwischen eigener Kunst und dem Sichtbarmachen Anderer, den sie spannend finde. Wobei es immer eine Zeit gebe, in der sie Ausstellungen organisiere, und eine, in der sie sich dem Studium widme. Der Frankfurter Kreative Hannibal Tarkan Daldaban hatte ihr den Zugang zum Kuratieren ermöglicht, sie mitgenommen in die Welt der Off Spaces, als sie 2013 als Praktikantin zu seinem Projekt »Punkt« dazukam. Damals wurde ein Raum an der Berliner Straße mit Kunst bespielt und sie von Anfang an in das Projekt einbezogen, erzählt sie. Später kam der »Oststern«, eine ehemalige Mercedes-Benz-Niederlassung an der Hanauer Landstraße, die bis zu ihrem Abriss temporär als ein Ort für Kultur und Ausstellungen genutzt wurde. Drei Schauen dort hat sie kuratiert und Erfahrungen im Projektmanagement gesammelt. Die Zusammenarbeit mit Daldaban besteht noch, zuletzt bespielten die zwei ein ehemaliges Geschäft für Trauringe an der Katharinenkirche unweit der Hauptwache. Das Projekt heißt »Umweg by Punkt«. Für Setareh Alipour eröffnen solche Orte die Möglichkeit, Menschen einzuladen, Räume aktiv mitzugestalten. Doch es müssen nicht immer leerstehende Räume sein. »Geschäfte sollten nicht nur Produkte ausstellen, sondern auch Ideen«, sagt sie. Die Vorstellung von Kunst sei zu sehr geprägt von Institutionen. Sich von diesen tradierten Vorstellungen zu lösen, versteht sie auch als Chance für eine Gesellschaft, Stadtentwicklung neu zu denken. Wie gesagt: Orte der Kunst und Kultur können überall sein … (_us.).


Raul Gschrey zu Hause im Atelier
Quelle: Günther Dächert©

Künstler. Leben. Orte. [16]

Raul G. – Stadt-Land-Mensch

Urbane Kunst mit der Inspiration der Suburbs

Wer den Künstler Raul Gschrey besuchen möchte, muss sich schon ein wenig aufmachen und sich Zeit nehmen. Die Reise beginnt mitten in Frankfurt an der Konstablerwache mit der S-Bahn. Schnell geht es raus nach Offenbach – dorthin, wohin es viele Künstler*innen verschlägt, wenn ihnen die Metropole unbezahlbar wird. Doch die Bahn fährt weiter, ins »Hinterland«. Über Obertshausen in den beschaulichen Rodgau. Ein Bahnsteig mitten in Feldern, auf der anderen Seite etwas Vorstadtidylle. Der Künstler wartet mit dem Rad. Weiter geht’s an ein paar alten Villen vorbei, an Einfamilienhäusern, einem Handwerksbetrieb, wieder am Feldrand und am Ortsrand, am nahen Friedhof. Am Wegrand wohl einige Archäolog*innen, die nach weiteren Jahrhunderten Ortsgeschichte graben. An einer neuen Kita, noch eine Straße mit Einfamilienhäusern, die ersten wohl aus den 50ern. Ein solches erwartet uns: Giebeldach, Blumen und Gemüse im Vorgarten, die flache Garage hinter der Einfahrt, ein Stück Garten mit Sonnenliegen, Rutsche, Trampolin, Terrasse … Vorbei an der offenen Küche ins Arbeitszimmer. Fürs kreative Chaos sorgt erstmal das verstreute Spielzeug der Tochter und der Freundinnen, in der Ecke ein Schreibtisch mit Monitor, daneben unübersehbar Kunst: ein pittoreskes Ölgemälde ländlicher Dorfidylle mit kleiner Burg auf einem Hügel …

Wie Eindrücke täuschen. Das Ölgemälde ist ein Erbstück. Verweist auf die Herkunft von der Bergstraße. Eher zufällig dort. Der Monitor, genauer: der Rechner dahinter, und ein kluger Kopf – darin und dahinter verbirgt sich die Kunst, derentwegen wir hier sind. Und der Kontrast könnte kaum größer sein. Videos, Fotos, Performances, Barcamps sind Gschreys Mittel, urbane, politische, soziale Kunst, »cultural studies« (im angelsächsischen Wortsinn) seine Genres. Der Ort ist scheinbar fern von der Kunst, die Gschrey macht oder kuratiert. Und doch nicht, 20 Minuten von der Metropole, mitten im urbanen Rhein-Main. Gschreys Palette ist breit, etwas pädagogisch zuweilen, wie er selbstironisch sagt. Mit Studierenden der »FH« – neudeutsch »University of Applied Sciences« – kuratiert er »Urban Commons«-Barcamps mit Partnerhochschulen von Finnland bis Portugal über alt-neue Dinge wie Allmenden und eine gemeinschaftliche Gesellschaft. Oder »Wasteland«, ein partizipatives Projekt um Ökologie und Miteinander, das Studierende der Architektur und sozialer Arbeiten auf die Beine stellen. Oder er initiiert Performances über Aneignung von Raum, lässt hochoffizielle Fahnenmasten vom Römer ab- und zum Kunstverein Montez ummontieren und staatstragend mit Hymne eine White-Cube-Fahne hissen. Oder er erzählt von der gerade beendeten Dissertation, in welcher es – vereinfacht gesprochen – um Gesichtserkennung geht – neudeutsches »Profiling«, womit man früher glaubte, »Krankheiten« wie Homosexualität erkennen und kategorisieren zu können, oder eben heute Straftäter in Menschenmassen. Bei Gschrey verschwimmen Welten. Urbanes mit Suburbanem, Altes mit Neuem. Welten werden neu gedacht oder definiert. Ein Künstler? Ein Wissenschaftler? Ein Forschender? Ein Hinterfragender? Ein Gestaltender? Nein, Gschrey ist nicht das, was man sich unter dem Bild des Künstlers vorstellt. Nicht nur wegen der Landidylle (das Haus ist ein Erbe seiner Frau). Nicht nur, weil ihm Arbeit und Einkommen an der Hochschule freies Arbeiten an der Gesellschaft und in der Kunst ermöglicht. Im Fokus die Frage »Wie wollen wir leben?« und das Miteinander – als Thema und Mittel. Wer jetzt einen Nerd mit Rollkragenpulli oder einen angehenden Professor mit Anzugsjacke vermutet, ist wieder auf der falschen Fährte. Statt dessen Rastalocken und Wohnmobil. Und die Garage? Lager für allerlei Utensilien wie alte Bildschirme von früheren Arbeiten – und für künftige natürlich auch. Ein Künstlerleben in Freiheit(en) … (vss.).

Günther Dächert©
Auf dem Weg durch die Region: Bürger*innen, Politiker*innen und Kulturschaffende im Gespräch miteinander. Links im Bild: Matthias Wagner K, der auch den Claim »Design for Democracy. Atmospheres for a better life« kreiert hat
Quelle: Ben Kuhlmann / Design for Democracy©

Kultur in der Debatte

Gestalten wir, wie wir leben wollen!

Ein Gastbeitrag von Matthias Wagner K

Frankfurt und die Region RheinMain gewannen gemeinsam den Titel »World Design Capital 2026«. Das Motto: »Design for Democracy. Atmospheres for a better life«. Matthias Wagner K, der Leiter der Bewerbung, skizzierte 2022 in seiner Festrede zum 32. Jahrestag der Deutschen Einheit in der Paulskirche Idee und Geist der Bewerbung und spannte den Bogen von den Herausforderungen unserer Zeit über die im doppelten Wortsinn gestalterische Kraft Frankfurts und der Region bis zur Kraft von Gestaltung für Gesellschaft und Leben heute.  

»Wir leben in einer Zeit tiefer Verunsicherung und vieler Irritationen. Optimismus, auch einer, der die Deutsche Wiedervereinigung am Anfang begleitete, scheint immer mehr einem Pessimismus gewichen zu sein. Da kommt, so könnte man salopp sagen, wenig Freude auf im Angesicht des Nationalfeiertages. Doch ja, es brauchte auch vor dem Ende der SED-Diktatur sehr viel Fantasie, sich deren Ende und damit eine Wiedervereinigung vorzustellen – so wie heute einen Weg Russlands, ohne Putin, in eine freiheitliche Demokratie mit einem friedlichen und gedeihlichen Auskommen mit seinen Nachbarn. Wir stehen, so darf festgestellt werden, vor epochalen Herausforderungen. Sind wir so stark, in diesem unserem vereinten Deutschland uns antidemokratischer Kräfte zu erwehren, in Hanau und Halle, Kassel und München, überall in unserem Land? Sind wir bereit und auch in der Lage, uns jeglicher gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zu erwehren, nicht allein der Hetze gegen Jüdinnen und Juden, gegen Ausländer:innen, gegen den Feminismus oder gegen LGBTQ? Sind wir standhaft genug, nicht dem Wunsch nach einem heterogen übersichtlichen vereinten Deutschland zu erliegen, sondern uns weiterhin für eine pluralistische Gesellschaft der Vielen, der Verschiedenen einzusetzen, was ein gemeinsames Verständnis von Zugehörigkeit ja überhaupt nicht ausschließen muss? Eine Zugehörigkeit, und ich darf an dieser Stelle die Journalistin Bascha Mika zitieren, »nicht einfach zur Nation sondern zur Demokratie.«

Wir sollten erkennen, dass es jetzt ein anderes Handeln braucht, weil uns schlichtweg die Zeit davonläuft. Womit wir beim Gestalten wären. Ein Gestalten, das sich als kreativer Schaffensprozess zu erkennen gibt, der bekanntlich als die ästhetische Gestaltung von unmittelbar Wahrnehmbarem, als auch von mittelbar Spürbarem wie etwa Lebens- und Persönlichkeitsgestaltung sowie Politik als Gestaltung gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse zu verstehen ist. Ein Gestalten, welches davon geprägt ist, Zustände, Strukturen, Dinge zu hinterfragen, das nach Fehlern und Irrtümern sucht, um sie korrigieren zu können, und das in die Zukunft gerichtet ist. Hier, in der Frankfurter Paulskirche, fällt es mir leicht, an gewichtige gesellschaftliche Gestaltungsmomente und Umgestaltungen zu erinnern. 1848 versammelten sich hier die Mitglieder des ersten gesamtdeutschen Parlaments, um über eine freiheitliche Verfassung und die Bildung eines deutschen Nationalstaats zu beraten, über Menschen- und Bürgerrechte, die Gleichheit vor dem Gesetz, die Aufhebung aller Standesvorrechte, die Gewährleistung persönlicher und politischer Freiheitsrechte sowie die Abschaffung der Todesstrafe. Und auch wenn diese mit großen Hoffnungen angetretene liberale und demokratische Einheits- und Freiheitsbewegung bereits 1849 als gescheitert gilt, war wiederum Frankfurt am Main in der Zeit von 1919 bis 1933 das Zentrum einer modernen Gestaltung und einer neuen Gesellschaft. Auf dem Weg zu einer neuartigen Großstadtkultur waren unter der Führung des Oberbürgermeisters Ludwig Landmann Gestalter:innen aufgerufen, neue Formen für sämtliche Bereiche des Lebens zu entwickeln, was bekanntlich unter dem Namen »Neues Frankfurt« weit über das bekannte, von Ernst May initiierte Wohnungsbauprogramm hinausging. Und auch nach dem Zweiten Weltkrieg war es Frankfurt am Main, das mit den Auschwitzprozessen – den größten NS-Strafprozessen der Nachkriegszeit in Deutschland – für die Aufarbeitung des Holocaust steht. Hier widmete sich 1969 der Philosoph Theodor W. Adorno in seinem letzten Gespräch einer Erziehung zur Mündigkeit. Hier sind das 1970 gegründete Leibnitz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung und der Forschungsverbund »Normative Ordnungen« der Goethe-Universität verortet. Hier wird im kommenden Jahr der ersten deutschen Nationalversammlung gedacht werden und soll das »Haus der Demokratie« entstehen.

Aufgrund jener profunden Basis bewirbt sich die Stadt Frankfurt am Main im Verbund mit zahlreichen Städten und Gemeinden der Region und mit dem Slogan »Design for Democracy. Atmospheres for a better life« um den Titel »World Design Capital 2026«. Eine Unternehmung, die auf das Potenzial von Design, von guter Gestaltung setzt und also auf eine potentielle Gestaltbarkeit einer lebenswerten Zukunft. Eine Bewerbung, die zu einer neuen Bewegung finden will, getragen von Akteur:innen, die bereit sind, glaubhaft neue Möglichkeiten für Prozesse, Strukturen und also Atmosphären zu entwickeln, die ein Aufeinander-Zugehen, ein streitbares Miteinander im Hier und Jetzt ermöglichen. Ein Gestalten zum Erlangen von Mündigkeit sowie der Erleichterung, Erweiterung, Erhaltung und Intensivierung des Lebens und also einer freiheitlichen Demokratie. Und vielleicht hilft es dabei, diese unsere freiheitliche Demokratie, die Einheit zweier einst getrennter Systeme wie eine Bühne zu verstehen, als einen Ort, den Akteur:innen nicht ernsthaft verlassen können, weil sie dann nicht mehr mitspielen würden. Mitspielen aber heißt, teilzuhaben und eben mitzugestalten an guten Lösungen für die zahlreichen Probleme. Und wenn hier wiederum die Rede von Problemen ist, dann sollten uns diese nicht davon abhalten, uns genaue Vorstellungen von der Zukunft zu machen, ist es doch wichtig, ein Ziel vor Augen zu haben, auf das man hinwirken kann. Und deshalb gehört zu dieser Bewegung auch der Aufruf, (wieder) zu beginnen, Visionen, Utopien und entsprechende Narrative als Treiber und Kompass zu entwickeln und auszuarbeiten, die es dann gilt, im kleinen Maßstab zu testen, ihre Umsetzung zu begleiten und Rahmenbedingungen für ihre Verbreitung zu schaffen. Und zwar in allen wichtigen Bereichen des Zusammenlebens wie etwa Wohnen, Mobilität, Gesundheit, Klima, Bildung, Medien, Energie oder Konsum.

»Design for Democracy. Atmospheres for a better life« stellt ein Versprechen in den Raum, das besagt, dass wir ein besseres Leben noch gar nicht erreicht haben. Ein Versprechen, das sich eindeutig an die Demokratie knüpft, die als Regierungsform das Versprechen der eigenen Verbesserungswürdigkeit in ihre Grundlage aufgenommen hat. Das besagte bessere Leben kann dabei nur eines sein, das auch nachfolgenden Generationen ein solches ermöglicht. Das sollte, ja das muss die Leitidee sein, wenn es um ein neues Gestalten geht. Die damit einhergehende Verantwortung ist eine, deren Basis, im Sinne Nietzsches, auf einem Eigen-Willen beruht, weil am eigenen Sein die Probleme erspürt werden können, und weil es bekanntlich glücklicher macht, schöne, gute Dinge zu tun. Es ist eine Verantwortung im erweiterten Sinne und also in Bezug auf eine andere Person, eine Gruppe oder diese unsere Gesellschaft mit dem Willen, ein Gestalten zu unterlassen, das eine existenzielle Gefährdung der Umwelt und unserer freiheitlich demokratischen Gesellschaft nach sich ziehen könnte. Lassen sie uns also diesen heutigen Tag und die Bewerbung der Region Frankfurt RheinMain zur World Design Capital 2026 zum Anlass nehmen, ein Signal in die gesamte Republik zu senden, eine Einladung zur aktiven Beteiligung an der Gestaltung unserer freiheitlichen Demokratie, auch als Vorbild und Hoffnung für all jene Menschen, denen diese genommen wurde, gerade genommen wird oder die nach ihr streben. Gestalten wir, wie wir leben wollen!«