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Quelle: Suhrkamp©

Buch des Jahres | 2016

Alleinvertreter und Ausgrenzer

Jan-Werner Müllers kluger Essay über Populismus

Donald Trump ist Populist. Die von der AfD sind auch Populisten. Marine Le Pen sowieso, die sagt es sogar von sich selbst. Dazu noch Orbán in Ungarn, Tsipras in Griechenland, Strache in Österreich, Grillo in Italien, Chávez und Perón in Südamerika. Halt. Die letzten beiden sind schon tot. Und genau wie Tsipras und Grillo eigentlich links. [weiter…]

Essay | Jan-Werner Müller

Wer ist eigentlich kein Populist?

Aufriss eines populären Themas

Von Jan-Werner Müller

Populisten, wohin das Auge reicht: 2015 hielt eine Koalition griechischer Links- und Rechtspopulisten nicht nur das eigene Land, sondern ganz Europa in Atem; in Spanien sind die Populisten auf dem Vormarsch, das seit dem Ende des Franquismus bestehende Parteiensystem ist bereits zertrümmert; in Frankreich ist der Front National schon lange Teil der etablierten Politik (sein Gründer Jean-Marie Le Pen ist mittlerweile seit sechzig Jahren Parlamentsabgeordneter), und selbst wenn seine Tochter Marine 2017 nicht Präsidentin der Republik werden sollte, gewinnt der FN doch immer mehr an Einfluss. Mit Viktor Orbán, Jarosław Kaczynski und dem Slowaken Robert Fico sind inzwischen in drei der vier Visegrád-Staaten gemeinhin als Populisten bezeichnete Politiker an der Macht (wobei die Visegrád-Länder einst als Pioniere eines erfolgreichen Übergangs vom Staatssozialismus zu liberaler Demokratie und Marktwirtschaft galten; inzwischen ist vor allem Orbán ein Verfechter einer explizit illiberalen Vision von Staatlichkeit). Kein Wunder, dass der ehemalige Präsident des Europäischen Rates, Herman Van Rompuy, bereits 2010 warnte: »Die große Gefahr ist der Populismus«.

Offenbar nicht nur in Europa. In den USA ist die Debatte um die oft als »rechtspopulistisch« titulierte Tea Party zwar abgeflaut, dafür macht Donald Trump als Präsidentschaftskandidat der Republikaner (und künftiger Präsident (Anm. der Red.)) seit Mitte 2015 nicht nur Furore, sondern schlicht Skandal: Seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts hat kein prominenter politischer Akteur so schamlos Minderheiten (und nicht zuletzt: Frauen) verhöhnt, ja zum Teil einfach unflätig beschimpft. Das Label »Populist« ist vielen Kommentatoren inzwischen zu harmlos: Eine ganze Reihe von Beobachtern scheut sich nicht mehr, den Immobilienmilliardär als »Faschisten« zu bezeichnen.

Südlich der USA wiederum, in Lateinamerika, mag die »rosa Welle« populistischer Palaststürmer (mit Hugo Chávez an der Spitze) inzwischen auslaufen. Aber noch halten sich mit Rafael Correa und Evo Morales zwei gemeinhin als »linke Populisten« bezeichnete Politiker an der Macht; wie Chávez in Venezuela haben sie die politischen Systeme ihrer Länder grundlegend umgestaltet; heute gelten sie einigen europäischen Intellektuellen (vor allem in Griechenland und Spanien) als Vorbilder. Letztere wollen eine Art Lateinamerikanisierung Südeuropas, im Zuge derer das »pueblo« die Oligarchien hinwegfegt. Und manch einer meint gar, in Zukunft werde sich die Politik auf dem gesamten alten Kontinent zu einem Kampf zwischen Rechtspopulisten und von lateinamerikanischen Theoretikern inspirierten Linkspopulisten zuspitzen.

Dieser erste Überblick ist nur ein Schnappschuss, vor allem zeigt er nur einen kleinen Ausschnitt der globalen politischen Szenerie – von den deutschen Zuständen, von Pegida sowie der Alternative für Deutschland (AfD) war noch gar nicht die Rede, auch nicht vom Populismus in Asien (man denke vor allem an Thailand). Dieser Essay soll dabei aber weder eine weltumspannende Geschichte des Populismus bieten noch tagespolitischen Aufgeregtheiten nachhecheln. Stattdessen will ich grundsätzlicher fragen, was Populismus eigentlich ist (oder, anders ausgedrückt: wer wirklich ein Populist ist) und worin das laut Van Rompuy so dringende »Problem« des Populismus denn eigentlich genau besteht. Sind überhaupt alle eingangs erwähnten politischen Akteure Populisten? Wurden nicht immer schon auch Mainstream-Politiker als Populisten bezeichnet? Helmut Kohl ob seiner Volkstümlichkeit; Gerhard Schröder, der Arbeitern einen »ordentlichen Schluck aus der Pulle« gönnen wollte (und vor laufenden Kameras volksnahe Sprüche à la »Hol mir mal ne Flasche Bier, sonst streik ich hier« klopfte); ja, sogar Angela Merkel, die zwar so gut wie nie vom »Volk« spricht, dafür jedoch häufig von »den Menschen«, als sei sie die einzige denkbare Vertreterin des deutschen Teils der Menschheit. Wollen – ja sollen – in der Demokratie nicht alle Politiker dem »Volk aufs Maul schauen«? Wenn politische Urteilskraft, frei nach Hannah Arendt, vor allem darin besteht, Unterscheidungen treffen zu können, ist es in Europa um die Urteilsfähigkeit vielleicht nicht allzu gut bestellt, da heute umstandslos alles und alle in einen Topf geworfen werden.

Zumal es bei der Debatte um Populismus emotional hoch hergeht. Man hält Populisten ja immer wieder vor, eine Politik der Gefühle (oder gar »aus dem Bauch heraus«) zu betreiben. Allerdings sind die negativen Urteile über den Populismus häufig selbst nicht ohne: Da ist schnell die Rede von »Pathologien«, einer »Entstellung der Demokratie«, falschem Bewusstsein oder gar »Ochlokratie« (Herrschaft des Mobs); die Verteidiger des Populismus wiederum kontern, ihre Kritiker litten an nichts Geringerem als »Hass auf die Demokratie« oder »Demophobie« – also Angst vor dem Volk oder gleich vor den »ganz normalen Leuten«.

Linke Theoretiker monieren zudem immer wieder, die etablierten Parteien benutzten das »P-Wort« nach Gutdünken, um Kritik an den herrschenden neoliberalen Verhältnissen mundtot zu machen. Ganz ähnlich klingen nationalistische Stimmen in Europa, wenn sie behaupten, jedes »Nein« bei Referenden über EU-Verträge werde von Brüssel automatisch als »populistisch« und damit als ungültig abqualifiziert. Kein Wunder, dass sich Marine Le Pen das Etikett »Populistin« inzwischen als demokratisches Ehrenabzeichen angesteckt hat – denn Populismus heiße, so Le Pen, das Volk und insbesondere »die Vergessenen« gegen die Eliten zu verteidigen. Viktor Orbán äußerte sich schon vor Jahren ganz ähnlich. Und Konrad Adam deklarierte auf dem Gründungsparteitag der Alternative für Deutschland in Berlin: »Wenn unsere Volksvertreter ihre Aufgabe darin sehen, das Volk zu entmündigen, sollten wir selbstbewusst genug sein, den Vorwurf des Populismus als Auszeichnung zu betrachten. Und alle Welt daran erinnern, dass die Demokratie insgesamt eine populistische Veranstaltung ist, weil sie das letzte Wort dem Volk erteilt: dem Volk, wie gesagt, nicht seinen Vertretern«.

Ist des einen lupenreiner demokratischer Anwalt des Volkes (oder noch spezifischer: der Vergessenen) des anderen Populist? Kann der Vorwurf des »Populismus« gar selbst populistisch sein, wie Ralf Dahrendorf einmal anmerkte? Ist »Populist« vielleicht nur ein Kampfbegriff – und für die politische Analyse schlicht nicht tauglich? Diese Schlussfolgerung wäre voreilig. Andere Begriffe sind schließlich ebenfalls heftig umkämpft – man denke nur an »Freiheit« oder auch »Demokratie«. Bei diesen kann man aber letztlich doch Unterscheidungen treffen: Putin mag sich als demokratisch bezeichnen, ist es aber nicht. Solche Unterscheidungen sind jedoch ohne Theorie nicht möglich. Anders gesagt: Wir benötigen so etwas wie eine kritische Theorie des Populismus, und diese wiederum ist nicht ohne eine demokratietheoretische Rückversicherung zu haben. Denn wer über Populismus redet, kann von Demokratie und Liberalismus nicht schweigen.

Noch einmal anders gewendet: Wer nicht zu sagen weiß, was demokratisch ist und was nicht, bleibt hilflos angesichts von Behauptungen, Populismus sei – auch wenn Populisten manchmal über die Stränge schlügen – doch eigentlich urdemokratisch, wenn nicht gar »hyperdemokratisch«. Populismus, so hört man häufig, sei im Zweifelsfall vielleicht doch ein »nützliches Korrektiv«, gar »Treibstoff« für eine liberale Demokratie, in der die undemokratischen Elemente (sprich: der Liberalismus) irgendwie zu stark geworden seien. Oder er sei hilfreich, weil Populisten Probleme ansprechen, welche die Bürger wirklich beschäftigen, über die sich aber niemand zu reden traue oder die von den »etablierten Parteien« totgeschwiegen würden. Kurz: Man müsse sich manchmal die Nase zuhalten, aber »Demokratie braucht Populismus«, wie es der über alle Zweifel an seiner demokratischen Gesinnung erhabene Bremer Politologe Lothar Probst einmal ausdrückte.

Ja, vielleicht ist die Populismus-Debatte, so ein naheliegender Verdacht, nur ein Symptom. Nämlich dafür, dass sich einerseits Demokraten vor der Vision einer liberalen, de facto »postdemokratischen« Herrschaft ohne wirkliche Volksbeteiligung fürchten, und dass andererseits liberale Eliten Angst haben vor einer Demokratie, in der illiberale Bürger die Mehrheit stellen. Dieses Bild einer strikten Trennung zwischen Liberalismus und Demokratie machen sich inzwischen so unterschiedliche Persönlichkeiten zu eigen wie Viktor Orbán und die belgische Radikaldemokratin Chantal Mouffe – was nicht heißen soll, dass sich vermeintliche »Extreme« immer irgendwo berühren oder dass man plausibel von einer Symmetrie zwischen Links- und Rechtspopulismus sprechen könnte (wie es die sogenannte Extremismusforschung regelmäßig suggeriert). Nur: Um hier Urteile zu treffen, braucht es eben eine adäquate Demokratietheorie. Insofern ist Populismustheorie notwendigerweise Demokratietheorie.

Populismus, um die Hauptthese dieses Essays vorwegzunehmen, kann häufig als demokratisch, gar radikaldemokratisch erscheinen. Er kann bisweilen auch positive Effekte für die Demokratie zeitigen. Entscheidend ist jedoch, dass Populismus an sich nicht demokratisch, ja der Tendenz nach zweifelsohne antidemokratisch ist. Um diesen Gedanken, der im Folgenden ausführlich entwickelt werden soll, nachvollziehen zu können, muss man nicht einer hoch speziellen und deswegen auch umstrittenen Spielart der Demokratietheorie anhängen. Man muss nur einige der Grundprinzipien der modernen repräsentativen Demokratie akzeptieren – Grundprinzipien, die trotz manch aufgeregten Geredes über Postdemokratie oder postrepräsentative Demokratie weder normativ noch empirisch infrage stehen sollten. Was nicht heißen soll, dass uns diese Prinzipien, ihre Rechtfertigung oder auch ihre Grenzen immer ganz deutlich bewusst sind. Die Beschäftigung mit dem Thema Populismus kann so indirekt auch zu einer Selbstverständigung darüber führen, was wir von der Demokratie eigentlich erwarten, welchen Herausforderungen sie sich derzeit gegenübersieht – und von welchen Illusionen über die »Volksherrschaft« wir uns möglicherweise verabschieden müssen, wenn wir den Populisten nicht auf den undemokratischen (und eben nicht nur: illiberalen) Leim gehen wollen.

Wir brauchen jedoch noch etwas anderes als Demokratietheorie: Geschichte (wobei sich diese bekanntlich ohne theoretische Unterscheidungen gar nicht erzählen lässt). Oft klingt es in der Diskussion über Populismus so, als gäbe es das Phänomen erst seit einigen wenigen Jahren, als erlebten wir aktuell ein einzigartiges »Zeitalter des Populismus« oder gar eine beispiellose »populistische Situation«. Dabei schrieben die Sozialwissenschaftler Ernest Gellner und Ghita Ionescu bereits Ende der sechziger Jahre in der Einleitung zu einem seinerzeit einflussreichen Sammelband: »Ein Gespenst geht um in der Welt – der Populismus«. Der Band war das Ergebnis einer großen Tagung an der London School of Economics, auf der Historiker, Soziologen und Politikwissenschaftler sich vorgenommen hatten, »Populismus« zu definieren. Es gelang ihnen nicht. Aber das Buch, welches aus der Konferenz hervorging, führte symptomatisch vor, dass das Wort »Populismus« schon damals zur Beschreibung verschiedenster Phänomene verwandt werden konnte, vom Maoismus bis zum in der Ära nach der Entkolonialisierung wichtigen »Entwicklungsnationalismus« sowie einem heute praktisch vergessenen »peasantism«. Oft schien die Populismus-Diagnose mehr mit den politischen Sorgen und Ängsten der Wissenschaftler zu tun zu haben als mit jenen empirischen Phänomenen, die mit dem Begriff »Populismus« auf einen Nenner gebracht werden sollten; gleichzeitig schleppte das Wort »Populismus« schon damals allerlei historischen Ballast (wie eben die Idee einer Verbindung zur »Bauernschaft«) und normative Konnotationen mit sich herum. Das gilt bis heute.

Was bisweilen »conceptual stretching« oder »Begriffsüberdehnung« genannt wird, ist wissenschaftlich problematisch, denn es erschwert die Erkenntnis; man bekommt die Phänomene nicht zu fassen. Es ist aber auch politisch heikel. Denn zumindest in Europa gilt: Wer einem anderen das Etikett »Populist« ankleben kann, hat politisch schon viel gewonnen. Das Publikum assoziiert den politischen Gegner dann automatisch mit Figuren wie Jean-Marie Le Pen oder Jörg Haider, vor denen viele Bürger – sogar viele, die irgendwie Protest zum Ausdruck bringen wollen – am Ende doch eher zurückschrecken. In den Populismusbegriff lassen sich alle möglichen ideologischen Versatzstücke hineinschmuggeln. So werden beispielsweise Orbán, Kaczynski und Podemos über einen Kamm geschoren, indem man behauptet, alle spielten auf der »sozialistisch-nationalen Klaviatur, wobei die einen mehr die schwarzen (nationalen) und die anderen mehr die weißen (sozialistischen) Tasten einsetzen«, immer mit einer scheindemokratischen Legitimation. Von dieser Gleichsetzung von Schwarz und Weiß (aber eigentlich: Rot) ist es dann nicht mehr weit bis zu folgender Logik: Die Gefahr für Bürgerrechte ist offensichtlich, wenn ein Donald Trump ein Einreiseverbot für Muslime fordert und osteuropäische Staatschefs allenfalls noch flüchtige Christen aufnehmen wollen. Sie ist aber auch vorhanden, wenn sich demokratisch scheinlegitimierte Mehrheiten daranmachen, Minderheiten zu drangsalieren. Dazu gehört die Umverteilung von Einkommen und Vermögen im Namen der »sozialen Gerechtigkeit«.

Der Populismusbegriff erlaubt es hier plötzlich, auch die armen Reichen unter die Kategorie »verwundbare Minderheiten« zu subsumieren. Dabei gab es doch bereits – selbst in Lateinamerika, dem angeblichen Paradies der linken Umverteilungsenthusiasten – neoliberale Populisten wie den peruanischen Präsidenten Alberto Fujimori; ja sogar ein nomineller Nachfolger des Erzpopulisten Juan Perón, der argentinische Präsident Carlos Menem, ist als »neoliberaler Populist« bezeichnet worden. Weitgehend vergessen ist auch, dass der Front National einmal marktliberal (sogar proeuropäisch!) war; dasselbe galt einst für die norditalienischen Ligen. Über den Populismus wurde schon oft gesagt, es handele sich um ein »Chamäleon«: Was politische Inhalte und begriffliche Einrahmungen anbelangt, scheint praktisch alles möglich zu sein – anything goes.

In diesem Essay soll ein präziser Begriff – oder, wenn man so will: Idealtyp im Sinne Max Webers – entwickelt werden, der zur Unterscheidung real existierender politischer Phänomene tauglich ist. Die demokratietheoretischen und historischen Hintergrundannahmen sollen dabei allerdings, ich habe oben bereits darauf hingewiesen, nicht so spezifisch sein, dass sich mit dem hier offerierten begrifflichen Fernrohr nur aus einer ganz speziellen normativen Warte etwas erkennen lässt. Meine Hoffnung ist, dass die ersten beiden Kapitel einerseits zum Verständnis dessen beitragen, was Populisten denken und sich unter erfolgreicher Politik vorstellen, und dabei andererseits die Idee plausibel machen, dass Populisten, entgegen einer weitverbreiteten Meinung, durchaus auch in ihrem Sinne erfolgreich regieren können. Gleichzeitig soll deutlich werden, warum ich mir das starke Urteil erlaube, Populismus sei der Tendenz nach immer antidemokratisch – und nicht nur eine Ideologie, deren Vertreter, wie man häufig hört, es mit der doch eigentlich urdemokratischen Idee einer direkten Vollstreckung des Volkswillens ein wenig übertrieben, weswegen dann die Liberalen immer jammerten. Dabei sei es in neoliberalen Zeiten durchaus in Ordnung, wenn der Liberalismus gelegentlich etwas Gegenwind bekomme oder zurückgedrängt werde.

Insbesondere soll in diesem Essay Folgendes gezeigt werden: Der Populismus ist der Schatten der repräsentativen Demokratie; er ist ein spezifisch modernes Phänomen. Im Athen der Antike gab es keinen Populismus. Demagogie sehr wohl, Volksverführer aller Art, die eine wankelmütige Masse von Mittellosen zu unvernünftiger Politik verleiten konnten, aber keinen Populismus. Populisten behaupten: »Wir sind das Volk!«. Sie meinen jedoch – und dies ist stets eine moralische, keine empirische Aussage (und dabei gleichzeitig eine politische Kampfansage): »Wir – und nur wir – repräsentieren das Volk«. Damit werden alle, die anders denken, ob nun Gegendemonstranten auf der Straße oder Abgeordnete im Bundestag, als illegitim abgestempelt, ganz unabhängig davon, mit wie viel Prozent der Stimmen ein offizieller Volksvertreter ins Hohe Haus gewählt wurde. Alle Populisten sind gegen das »Establishment« – aber nicht jeder, der Eliten kritisiert, ist ein Populist. Populisten sind zwangsläufig antipluralistisch; wer sich ihnen entgegenstellt und ihren moralischen Alleinvertretungsanspruch bestreitet, gehört automatisch nicht zum wahren Volk. Demokratie ist ohne Pluralität jedoch nicht zu haben; wie Jürgen Habermas es einmal kurz und bündig formulierte: Das Volk »tritt nur im Plural auf«. Und Demokratie kennt am Ende nur Zahlen: Die Stimmanteile entscheiden darüber, wer die Bürger repräsentiert (in den Worten Claude Leforts: »Mit der Demokratie tritt die Zahl an die Stelle der Substanz«). Das mag wie eine Banalität klingen, ist aber von entscheidender Bedeutung in Auseinandersetzungen mit Populisten, die behaupten, den Willen des Volkes zu repräsentieren und zu vollstrecken – in Wirklichkeit jedoch eine symbolische Repräsentation des angeblich »wahren Volkes« instrumentalisieren, um demokratische Institutionen, die dummerweise nicht von Populisten dominiert werden, zu diskreditieren. Aus all diesen Gründen folgt das Urteil, dass Populisten zumindest der Tendenz nach antidemokratisch sind.

Dieses starke Urteil macht es dann aber auch notwendig, Vorschläge zu der Frage zu präsentieren, wie man mit Populisten in der Praxis umgehen soll – was dann im dritten und letzten Teil des Essays geschieht. Auch diese Debatte ist bekanntlich nicht ganz neu: Seit vielen Jahren schwanken die Empfehlungen zwischen zwei Optionen hin und her: einerseits der Strategie, Populisten konsequent auszugrenzen, andererseits der Vorstellung, es könne sinnvoll sein, Themen und politische Rezepte der Populisten selektiv zu übernehmen und so ihren Einfluss zu verringern. Für beide Vorgehensweisen gibt es erfolgreiche Beispiele, die allerdings oft aus dem spezifischen historischen und kulturellen Zusammenhang gerissen werden. Ich möchte vor allem normativ fragen, auf welche Weise man sich mit Populisten auseinandersetzen kann, ohne ihre Selbststilisierung, sie würden von liberalen Eliten diskriminiert, noch zu verstärken.

Es ist ein Fehler, so meine These, den Populismus zu psychologisieren. Im Hinblick auf Populisten gilt: An ihrem moralischen Alleinvertretungsanspruch – und nicht an ihren Gefühlslagen – sollt ihr sie erkennen. Wer von vornherein meint, die Anhängerschaft der Populisten setze sich allein aus Modernisierungs- und Globalisierungsverlierern mit all ihren vermeintlichen »Ressentiments«, »Sorgen« und »Ängsten« zusammen, macht es sich zu leicht. Politik verkommt hier zur Gruppentherapie – und man braucht eigentlich gar nicht zuzuhören oder die Argumente der anderen für bare Münze nehmen, da ja ohnehin nur diffuse »Ängste« zum Ausdruck gebracht werden. Man darf denen, die Verteidiger der Demokratie sein wollen, durchaus zumuten, sich auf Augenhöhe mit den Populisten auseinanderzusetzen (anstatt sie von oben herab therapieren zu wollen oder es gar, im deutschen Kontext, stillschweigend der Antifa zu überlassen, den selbst ernannten »Patrioten fürs Abendland« ein blaues Auge zu schlagen).

Vor allem: Wenn aus einem populistischen »Wir sind das Volk« so etwas würde wie ein »Auch wir sind das Volk«, dann wäre dies ein völlig legitimer zivilgesellschaftlicher Anspruch derer, die sich vergessen fühlen oder die de facto ausgeschlossen wurden. So waren es beispielsweise in der amerikanischen Verfassungsgeschichte oft genug die Unterdrückten und Marginalisierten, die sich auf das demokratische »Wir« berufen haben. Allerdings um an das Versprechen einer »more perfect union« zu erinnern und für mehr Gleichberechtigung zu kämpfen – und nicht, um andere auszugrenzen.

Konkrete Forderungen von Bürgern kann man dann natürlich immer noch mit guten Gründen zurückweisen. Fatal wäre es jedoch, auf diese zu reagieren, indem man sagt: »Weil Ihr andere ausschließen wollt, schließen wir Euch aus«, oder gar: »Weil Ihr Populisten den politischen Diskurs moralisiert, seid Ihr moralisch minderwertig.« Zuletzt droht die Gefahr, dass etablierte Parteien, in dieser Hinsicht den Populisten dann gar nicht so unähnlich, behaupten, sie – und nur sie – verträten die Bürger. Doch auch eine Koalition zweier selbst deklarierter Volksparteien beispielsweise kann das Volk nicht restlos repräsentieren.

In einer Zeit der Globalisierung – sprich: durchlässiger oder gar ganz verwischender Grenzen – suggerieren die Populisten mit ihrem »Wir« eindeutige Zugehörigkeit und klare Grenzen (»unser Abendland« – und alle »wahren« Deutschen wissen dann schon, was gemeint ist). Die Demokratie tut sich hingegen mit Eindeutigkeiten schwer, und zwar ganz unabhängig von der Globalisierung. Genau gesagt: Sie kann Grenzen gar nicht demokratisch begründen. Denn um die Grenzen durch den Demos zu bestimmen, müsste man ja schon wissen, wer das entscheidungsberechtigte Volk ist – und genau das war die Frage.

Das soll nicht heißen, dass man gegenüber den Populisten am Ende doch das moralische Handtuch werfen muss, nach dem Motto »Mir san das demokratische Mir« – aber wirklich begründen können wir Zugehörigkeit nicht. Es war wichtig, dass beispielsweise Aiman Mazyek, der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, im Winter 2014/15, als in Dresden die Patrioten marschierten, eindeutig betonte: »Wir alle sind Deutschland« (genau wie der französische Premierminister Manuel Valls im Januar 2015 nach dem Charlie-Hebdo-Massaker die richtigen Worte fand, als er seine Landsleute daran erinnerte, Frankreich ohne Juden sei nicht Frankreich). Aber solche Sätze sind eigentlich keine Argumente, sondern normative Abkürzungen für Gründe, die man als Antwort auf Populisten – auch wenn man dies zu Recht als Zumutung empfinden mag – ausbuchstabieren muss. »Wir alle sind Deutschland« heißt heute zweifelsohne etwas anderes als vor fünfundzwanzig oder gar fünfzig Jahren (einst konnte man bekanntlich ohne ins politische Grübeln zu geraten von »ausländischen Mitbürgern« reden). An die Gründe dafür gilt es zu erinnern. Das demokratische »Wir« ist keine Tatsache, die man einfach so konstatieren kann, sondern ein anstrengender Prozess, bei dem Zugehörigkeit immer wieder neu ausgehandelt und erstritten wird. Insofern ist die hier vorgeschlagene Diagnose – Populismus ist eine gefährliche Sache für die Demokratie – keine, auf der man sich dann ausruhen kann im Sinne eines: »Jetzt wissen wir ja, mit wem wir es zu tun haben«. Sie soll auch daran erinnern, wie schwierig und nervenaufreibend Demokratie immer wieder ist.

 

Der Essay ist die Einleitung zu Jan-Werner Müllers Buch »Was ist Populismus?«. Der Nachdruck erfolgt hier mit freundlicher Genehmigung des Verlages.