Von Hella Brunsch
Uticha Marmon | Mein Freund Salim | ab 8 Jahren
Es ist die Geschichte einer Freundschaft. Der Freundschaft zwischen Hannes, seiner kleinen Schwester Tammi und dem »Vogeljungen«. Der fällt den beiden Geschwistern zu Beginn der Geschichte durch allerlei Merkwürdigkeiten auf. Durch seine komische Kleidung, viel zu klein und eigentlich eher für Mädchen als für Jungen. Durch sein ungewöhnliches Verhalten, wenn er sich etwa in Schränken versteckt, und sein häufiges plötzliches Verschwinden (Wo wohnt der überhaupt?). Anstatt zu sprechen malt er an Wände und in Bücher – das aber zugleich unvergleichlich gut. »Mein Freund Salim« ist ein Buch, das einfach erzählt. Eine Detektivgeschichte für Kinder, in welcher Kinder die Geschichte von der Flucht des unbegleiteten minderjährigen Salim und seinem Traum von der Öresundbrücke lesen. Als würden sie selbst über einen Freund erfahren, was Flucht ist …
Uticha Marmon + Mein Freund Salim + Magellan + Bamberg 2015 + 158 S. + 13,95 Euro + ab 8 Jahren | (c) Magellan
Anne-Laure Bondoux | Zeit der Wunder | ab 12 Jahren
Blaise Fortune wächst als Adoptivsohn einer alleinstehenden Frau im Kaukasus der 80er und 90er des vergangenen Jahrhunderts auf. Eigentlich ist er Franzose und bereits als Säugling durch ein Zugunglück mutterlos geworden. Dadurch landete er bei seiner Ziehmutter Gloria, die ihn gerne nach Frankreich zurückgebracht hätte. Jahre vergehen, bis Blaise Frankreich erreicht. Doch die Geschichte vom wahren Unglück seiner Familie bringt ihn noch einmal zurück nach Tiflis …
Anne-Laure Bondoux erzählt in »Zeit der Wunder« aus einer gänzlich ungewöhnlichen Perspektive. Sie erzählt zuerst die Geschichte dieses Jungen, der aber zugleich das Bindeglied ist zwischen dem reichen Frankreich und dem armen Georgien. Durch die Geschichte in Georgien und den Weg nach Frankreich wird Flucht zum allumfassenden Thema. Flucht ist in Zeit der Wunder nicht als zeitlich begrenzte Zwangsreise erzählt, sondern es ist die Lebensweise aller Protagonisten. Flucht ist beengtes Wohnen und wechselnde Bekanntschaften, hartes Arbeiten und unruhiger Schlaf, schöne Erinnerungen an damals und die Hoffnung auf das Neue. Zwischendurch warme Momente von Geborgenheit. Ein Buch, das erleben lässt …
Anne-Laure Bondoux + Zeit der Wunder + übersetzt von Maja von Vogel + Carlsen + Hamburg 2013 + 92 S. + 6,99 Euro + ab 12 Jahren | (c) Carlsen
Claude K. Dubois | Akim rennt | ab 6 Jahren
Als wir Akim kennenlernen, spielt er mit seinen Freunden am Fluss. Plötzlich fallen die Bomben – und Akim rennt. Bei dem Angriff auf das Dorf verliert er seine Eltern aus den Augen und ist von nun an alleine – auf sich gestellt und auf der Flucht.
Claude Dubois zeichnet mit wenigen Strichen dessen Geschichte und fokussiert den Blick immer wieder auf diesen kleinen Jungen. Dabei weiß der Leser nie, wo die Geschichte gerade stattfindet. Nichts kann lokalisiert, in einen Kontext gestellt und bewertet werden. So melden sich beim Leser selbst Desorientierung und Getriebenheit und damit jene Empfindungen, die ein Kind auf der Flucht umfassend empfindet.
Eigentlich wird die Geschichte über Dubois‘ Zeichnungen erzählt, der Text ist zurückhaltend. Das wirft Fragen auf und lässt Raum für Gespräche. Ein starkes, aber nicht einfaches Buch, das 2014 mit dem Deutschen Kinder- und Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde. Ob man es bereits ab sechs Jahren lesen sollte, sollten Eltern entscheiden. Und sie sollten vielleicht dabei sein, wenn ihr Kind dies liest …
Claude K. Dubois + Akim rennt + Moritz Verlag + Frankfurt 2014 + 96 S. + 12,95 Euro + ab 6 Jahren | (c) Moritz Verlag
Armin Greder | Die Insel | ab 8 Jahren
Die Geschichte spielt auf einer Insel. Die Bewohner finden einen Mann am Strand. Ein Mann, der anders ist als sie. Und den sie schon bald in der Mitte ihrer Gemeinschaft wiederfinden. Das irritiert und erschreckt sie. Sie finden, sie hätten genug getan für ihn. Und sie finden: Der Fremde muss weg!
Der Fremde bleibt in der ganzen Geschichte fast gänzlich passiv. Sein bloßes Erscheinen empfinden die Inselbewohner als Existenzbedrohung. Vorurteile und Gerüchte gipfeln in der Vertreibung des Fremden. Sein einziger Fürsprecher, der Fischer, verstummt. Die Insel wird zur Festung ausgebaut.
Greders Zeichnungen zeigen stumpfe Gesichter, eine übersättigte Gesellschaft voller Doppelmoral. Greders Parabel erzählt von Einfältigkeit, Angst und Hass – allerdings ohne erhobenen Zeigefinger und ohne dabei plump zu werden. Die Botschaft: Geschlossene Systeme und Fremdenfeindlichkeit sind Fehler der Mehrheit – und werden schnell zum Problem der Minderheiten.
Armin Greder + Die Insel + Fischer Sauerländer + Frankfurt 2015 + 40 S. + 16,99 Euro + ab 8 Jahren | (c) Fischer Sauerländer
Peer Martin | Sommer unter schwarzen Flügeln | ab 6 Jahren
Perspektiven und Perspektivwechsel sind es, die viele Bücher faszinierend machen. Und die Kindern und Jugendlichen zeigen, dass es oft nur auf den Standpunkt ankommt. So auch in Peer Martins Geschichte einer Liebe mit dem ungewöhnlichen Titel »Sommer unter schwarzen Flügeln«. Einer Liebe allerdings zwischen einem ostdeutschen Neo-Nazi und einer Asylbewerberin aus Syrien. Eine Liebe, die weltanschauliche und kulturelle Grenzen überwindet …
Ein wunderbares Klischee, könnte man meinen. Doch diese Liebe hat 528 Seiten Raum, sich zu entwickeln und hält Platz bereit für die Erzählungen Nuris, der nach Deutschland Geflüchteten, die bilderreich den syrischen Bürgerkrieg erzählt. Darin verwoben die Geschichte ihres deutschen Freundes Calvin, der wegen ihr aus der Neo-Nazi-Szene aussteigt – und damit selbst zum Asylsuchenden wird! Peer Martin zeigt Parallelen in der Erfahrungswelt zweier Leben, die so grundsätzlich verschiedenen scheinen. Und das Erstaunlichste an diesem Debüt: Es erzählt eine glaubhafte und konsequente Geschichte – ohne Klischees.
Peer Martin + Sommer unter schwarzen Flügeln + Oetinger + Hamburg 2015 + 496 S. + 19,99 Euro + ab 6 Jahren | (c) Oetinger
Janne Teller | Krieg. Stell Dir vor, er wäre hier | ab 12 Jahren
Ursprünglich als Essay in einer Lehrer-Zeitschrift erschienen, funktioniert »Krieg. Stell Dir vor, er wäre hier« – mittlerweile in 7. Auflage – längst als Parabel der Jugendliteratur. Eigentlich wird eine Geschichte erzählt, die wir alle zu kennen glauben. Eine Familie flieht aus der Heimat und kämpft im Aufnahmeland mit Bürokratie, Statusverlust, Psyche und Kultur.
Allerdings werden die Verhältnisse hier umgekehrt, so dass der Bürgerkrieg in Deutschland stattfindet und das Fluchtziel Ägypten ist. Teller spricht den Leser dabei direkt an. Deine Fluchtgeschichte. Deine Ausbildung, die auf Eis liegt. Deine Mutter, die von der Ministeriumsangestellten zur Brotbäckerin auf der Straße wird.
Die Erzählform bringt dabei ein paar kulturelle Stereotype mit. Doch dies stört wenig. »Krieg« bleibt trotzdem ein intensives Leseerlebnis. Und dank der Illustrationen von Helle Vibeke Jensen auch ein ästhetisches.
Janne Teller, Helle Vibeke Jensen + Krieg. Stell Dir vor, er wäre hier + dtv Hanser + München 2013 + 64 S. + 5,00 Euro + ab 12 Jahren | (c) dtv
Kirsten Boie, Jan Birck | Bestimmt wird alles gut | ab 6 Jahren
»Bestimmt wird alles gut« ist die Chronologie einer Flucht. Mit Fokus auf das syrische Mädchen Rahaf wird über Ursachen, Stationen und Gefahren der Flucht, aber auch über das erste Wohnen, den ersten Schultag und die erste Freundschaft in Deutschland berichtet. Man hört von den Großeltern und Freunden, die in Homs zurückbleiben mussten, erfährt von der Enge auf einem Boot im Mittelmeer und einer anderen Enge im Aufnahmelager, von der Feindseligkeit deutscher Menschen und von ihrer Freundlichkeit.
Mit Kirsten Boie liefert eine Institution der (pädagogischen) Kinderliteratur ihren Beitrag zu einem aktuellen Themenkomplex. Dabei ist »Bestimmt wird alles gut« eines der wenigen Kinderbücher, das in einer deutsch-arabischen Ausgabe erscheint. Trotz der Motive der Geschichte kommt sie sehr nüchtern daher und teilweise sogar farblos, was unter anderem an der sehr reduzierten Sprache liegt. Die Satzstruktur ist einfach gehalten, so dass sich die Lektüre – zumindest sprachlich – auch für Deutsch- (bzw. Arabisch-) Anfänger eignet.
Als Extra findet sich im Anhang ein kleines Lexikon mit einfachen Sätzen, die das gemeinsame Spielen erleichtern sollen. Ein sicher nicht schlechtes Buch, das aber vielleicht auch einen Tick zu pädagogisch daherkommt.
Kirsten Boie, Jan Birck + Bestimmt wird alles gut + Klett Kinderbuch + Leipzig 2016 + 48 S. + 9,95 Euro + ab 6 Jahren | (c) Klett
Anja Tuckermann, Tine Schulz | Alle da! | ab 5 Jahren
Das Beste zum Schluss. »Alle da!« ist in der Tat wohl das Beste, was der Kinderbuchmarkt zum Thema Migration und Interkultur derzeit zu bieten hat. Es gibt Antworten auf viele Fragen: Wieso ziehen Menschen in andere Länder? Wieso kann es beim Zusammenleben Probleme geben? Es geht aber auch tiefer, wenn zum Beispiel gefragt wird, warum manche Menschen sich schwer tun, eine fremde Sprache zu lernen. Dabei ist »Alle da!« gar nicht wirklich problemorientiert, sondern stellt das Gemeinsame in der Verschiedenheit heraus. Und das, ohne zu generalisieren: Was und wie feiern Menschen? Sagen alle »Hatschi« beim Niesen? Gründe und Folgen von Aus- und Einwanderung werden multiperspektivisch und vielschichtig erklärt, Dimensionen der interkulturellen Begegnung aufgezeigt. Das Buch bleibt durch seine exemplarische Betrachtung dieser Phänomene immer verständlich und kommt gänzlich ohne eurozentristische Perspektive aus. Die Illustration von Tine Schulz ist darüber hinaus einfach nur komisch und die Gestaltung des Buches lädt allein schon den Blick zum Schweifen ein.
Anja Tuckermann, Tine Schulz + Alle da! + Klett Kinderbuch + Leipzig 2014 + 40 S. + 13,95 Euro + ab 5 Jahren | (c) Klett