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Den Protest auf die Bühnen getragen
Quelle: Mousonturm©

To Think | Brasiliens wütende Künstler

Um país de todos – ein Land aller?

Ein Kommentar von Matthias Pees

Als ich vor 13 Jahren nach Sao Paulo zog, war Lula da Silva gerade Präsident geworden, und das Land schien mir erfasst zu sein von einer gewissen Euphorie. Einer Hoffnung nicht nur auf bessere materielle Verhältnisse für immer mehr Menschen, sondern auch auf ein neues Miteinander, mehr Einheit in Vielfalt, Demokratie, Gerechtigkeit und Teilhabe, ein Überwinden der krassen Klassenunterschiede und starken Segregation. Das große, emanzipatorische »Projeto Brasil« versuchte die neue Regierung unter dem Slogan »Um país de todos« (Ein Land aller) zu realisieren, damit das ewige »Land der Zukunft« (Stefan Zweig) endlich in der Gegenwart ankäme. Selbst die Rechten, die Reichen und die alteingesessenen, natürlich nur teilentmachteten Eliten schienen den Atem anzuhalten ob der damaligen Entwicklungen, setzten insgeheim vielleicht sogar selber auf die Integration unter dem einstigen Gewerkschaftsführer, oder schwiegen zumindest.

Wenig ist geblieben von diesem Aufbruch, die alten Gräben sind wieder aufgerissen, abgrundtief. Staatsstreichartig wurde Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff suspendiert, es regiert ihr Stellvertreter Michel Temer von der korruptesten und zweifelhaftesten aller brasilianischen Großparteien, ein Haufen reicher alter weißer Männer, die alte Garde, die Reaktion. Zum Wohl der darniederliegenden Wirtschaft, wie es heißt, vor allem aber wohl zum eigenen Wohl, zum Schutz vor Strafverfolgung. Vehement dagegen halten Brasiliens Künstler, kämpfen für die Demokratie, für das »Projeto Brasil«, gerade jetzt. In vielfältigen Arbeiten und Aktionen beleuchten und diskutieren sie das Projekt. Und mit »Against the Coup in Brazil« protestieren sie immer wieder phantasie- und effektvoll am Ende ihrer Aufführungen. Die spektakulärste Aktion: Tausende Künstler – darunter prominente und populäre Namen wie Gilberto Gil, Caetano Veloso, Carlinhos Brown und Chico Buarque – demonstrieren landesweit gegen die handstreichartige Abschaffung des Kulturministeriums MinC und besetzen die Gebäude des MinC. Temer blieb nichts anderes übrig, als die Pläne fallen zu lassen. Er hat auch genug andere Baustellen. Nach immer neuen Enthüllungen fallt quasi im Wochenrhythmus ein anderer Minister von seinem Kabinettstisch. Doch Brasiliens Künstler begnügen sich nicht mit Aktionen zu Hause. In Cannes protestierten Schauspieler mitten auf dem berühmten roten Teppich vor laufenden Kameras mit Slogans wie »In Brasilien geschah ein Putsch!« oder »54.501.118 Stimmen verbrannt!«. Ähnliche Aktionen sah man auch bei den »Projeto Brasil«-Festivals kürzlich in Dresden, Berlin und bei uns in Frankfurt.

Und zumindest eines ist sicher: Auch das wird nicht der letzte Akt gewesen sein …