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Ausschnitt Buchcover
Quelle: S. Fischer Verlage©

Mitgelesen | »Die smarte diktatur«

Diktatur der vorgestrigen Polemik

Unterwegs im Paralleluniversum des Autors Harald Welzer

Mittwochabend, Museum Angewandte Kunst. Dicht gedrängte Menschen im Foyer, Polemik lockt. Zu Gast: Harald Welzer mit seinem neuen Buch »Die smarte Diktatur. Angriff auf unsere Freiheit«. Zunächst ein charmanter Verweis auf die sehenswerte Ausstellung des Hauses »The Happy Show« und die Feststellung, dass wir zu den »very few happy people« gehören, die in einer Demokratie mit garantierter Freiheit, Sicherheit, Teilhabe leben. Dann ein dramatischer Abstieg in blanke Polemik. Weltweit seien Diktaturen nicht mehr auf dem Vormarsch, sondern auf dem Rückzug. Unsere Demokratien werden stattdessen ausgehöhlt – und zwar von innen. Eine systemimmanente feindliche Übernahme sozusagen. Die Balance zwischen Öffentlichkeit und Privatheit werde durch Datendiktatur und Alltransparenz zerstört.

Welzer konstatiert sodann den Wandel in eine digitale Gesellschaft und eine unehrliche Politik, die unbequeme Wahrheiten nicht auszusprechen wage und Bedrohungen ignoriere. Doch seine Argumente und Belege diktatorischer Mächte, die wild am Wirken seien, bleiben am Stammtisch. er vermischt in seinen Beispielen immer wieder die politische, ökonomische und individuelle Ebene: Konsummarionetten und Datenporno, globales Land Grabbing, politische Anbiederung an diverse Regime und Hate-Kultur im Netz. Und selbst im Wald hingen ja Kameras. Aber alles hängt ja ohnehin mit allem zusammen, und die Welt ist böse. Also doch. In welcher Ideenwelt vergreist dieser Mensch? Und weshalb hören wir ihm zu? Immerhin Wohlwollen im Publikum. Doch nicht übersehbar ist, dass Welzers nostalgieverklärter Blick gefährlich scheuklappig ist. Unsere Gesellschaft hat sich längst irrevisibel gewandelt. Die digitale Identität ist verwoben mit der analogen und längst ein Teil von uns, auf den die meisten nicht mehr verzichten werden. Die Grenzen von privat und öffentlich sind verschoben – und für die Jüngeren ist das Bedürfnis nach Privatheit ein anderes. Dass wir die Deutungshoheit über unsere Identität behalten und unsere Daten uns gehören, bestreitet heute niemand ernsthaft. Dies gilt es einzufordern und zu gestalten (wie es auf EU-Ebene erarbeitet wird). Bewusst mit Konsum und Daten umzugehen, ist gleichermaßen eine individuelle Aufgabe – weit entfernt von jeglicher Diktatur, sondern eben gerade die Freiheit und Verantwortung im demokratischen Leben.

Schuldig bleibt Welzer Antworten, Wege aus der ihm nach zerstörerischen Entwicklung – oder auch nur Ideen für eine Zukunft, die mehr ist als ein Zurück. Sein Ausweg ist populistisch und wenig konstruktiv: Man müsse das nicht mitmachen. Recht haben Sie, Herr Welzer. Im moralischen Elfenbeintürmchen hocken reicht aber nicht, und das ewige Beschreien von Gespenstern, die umgehen, ebenso wenig. Und sich in einem Atemzug mit Hans Magnus Enzensberger zu nennen, ist zutiefst anmaßend. Auch das ein bisschen – smarte – Diktatur (pem.).