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To Think | Europa, quo vadis?

Das Hadern als Normalzustand

Ein Plädoyer für ein entschieden unentschiedenes Europa

Was ist nicht schon alles über Europa gesagt worden? Doch das ungläubige Staunen über die unwahrscheinlichsten Hakenschläge der Wirklichkeit, die manchmal gar keine Wirklichkeit mehr ist, sondern das postfaktische Zeitalter, teilen viele Menschen. Wie sonst wäre es zu erklären, dass die Thementage »Erfindung Europa« Mitte Februar im Schauspiel Frankfurt schon am Samstagmorgen zu vollen Sälen führten? Wir alle fragen uns, wie es weiter gehen kann mit Europa. Ein Gefühl von Solidarität und Tatendrang waberte durch die Kulturstätte. Die vielen Menschen – ein schlechtes und ein gutes Zeichen.

An diesem Morgen sprach der Soziologe Dirk Baecker. Ein scharfer Analytiker, der mit forscherischem Vergnügen Dinge auf den Punkt bringt und gleichsam versöhnliche Perspektiven aufzeigt. Seine Gedanken kreisten um Macht und Kultur. Und um Europa. Europa sei zu Tode reflektiert, ihm der Boden entzogen. Europa müsse neu geordnet werden. Zuerst eine schlechte Nachricht: Zur Vervollständigung unserer Welt brauchen wir die Negation. Deshalb werden wir wohl nie das europäische Paradies auf Erden erreichen. Europa kann aber der Ort bleiben, an dem der weitgehende Konsens besteht, Konflikte friedlich auszutragen und die Andersartigkeit des Gegenübers respektvoll auszuhalten. Auf dem Weg dahin sind wir in den letzten Jahrzehnten vorangekommen. Doch wie viele Le Pens, Wilders, Höckes & Co. hält die demokratische Gesellschaft aus, wie viel Negation kann in die Welt-Waagschale geworfen werden, bevor sie kippt?

Für unsere einzigartigen Errungenschaften (und Konflikte) stehen drei Städte: Jerusalem mit der Erfindung des einfachen Gottes, der ein dreifacher ist, Athen mit der Geburt der Wissenschaft und der unendlichen Suche nach Wahrheit und Rom als Zentrum maximaler Macht, die an den Rändern bröckelt. Europa ist keine demokratische Einheit, seine Stärke besteht vielmehr in einem Denken, das mit Ambivalenzen und Paradoxien umzugehen in der Lage ist. Ein Einheitsdiskurs ist nach Baecker das falsche Ziel. Die gemeinsame Geschichte verbindet. Unser Denken und Handeln ist bestimmt durch binäre Codes, mehrwertige Logik und die besagte Negation. Das macht es komplex, widersprüchlich – und die Gesellschaft oszilliert zwischen diesen Logiken. Die Trumps dieser Welt erfüllen so eine wichtige politische Funktion. Und es gibt nicht nur »Trump-Ereignisse«, auch wenn es an manchen Tagen so scheine.

Mehr Unaufgeregtheit, aber auch mehr Tun – so das Plädoyer des Soziologen. Momentan seien wir in einer Situation, in der eine Befriedung Europas nicht machbar sei, sondern sich die Machtlosigkeit der Politik zeige. Der Trend zur Renationalisierung sei der Versuch, Macht zurückzuholen. Doch es gibt eine Option: Das Europa der zwei Geschwindigkeiten als Modell der Ambivalenz und Vielfältigkeit – ein Europa, das unentscheidbar bleibt. Die gilt es, gemeinsam auszuhalten und sich nicht zufriedenzugeben. Typisch Europa eben … (pem.).