In Deutschland und in der Region gehen die Menschen vielfach wieder zur Normalität über. »Zusammenstehen« wird wieder anders definiert als noch vor ein paar Wochen. Jan-Hendrik Pauls und Petra Manahl machten sich ein paar Gedanken in der allseits gefühlten Post-Corona-Ära. Sie fragen, ob nicht alles wieder viel zu schnell geht. Und wo sie geblieben ist, die Nachdenklichkeit der letzten Wochen, als doch alle mal über eine vielleicht andere Welt nach Corona sprachen …
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Corona ? War da was ?
Ein sonniger Freitagabend Anfang Juli in Frankfurt-Sachsenhausen. Die Tische der Pizzeria auf dem Gehweg sind fast alle belegt. An einem sitzen zwei Frauen und lachen. Eine dritte kommt hinzu. Sie umarmen sich, begrüßen sich mit Küsschen. »Dürfen wir das eigentlich?«, fragt die eine, als sie sich neben ihre Freundin quetscht. Halb verschämt, halb kokettierend. Die anderen lachen. »Ja, ich glaube, die Beschränkungen sind aufgehoben«, sagt eine. Und erteilt allen Dreien und der Entourage drumherum die Absolution. Corona? War da was? Muss gestern gewesen sein. Aber zur Sicherheit noch mal fragen …
100 Tage war das Virus jetzt in Deutschland. 100 Tage schwerste Ausgangsbeschränkungen, Trennung von besten Freunden, Aussetzung aller Grundrechte. 100 Tage – Das muss dem Virus reichen. Zumal jetzt ja nicht mehr Frühjahr ist. Sondern Sommer und Sommerferien. Und da gehören Viren ja gar nicht hin. Und überhaupt: Ist das Virus nicht schon in Südamerika? Die Folge: Frankfurter*innen – und nicht nur sie – fliegen in den Sommerurlaub (nur nicht nach Südamerika) oder quartieren sich über das Wochenende bei Freunden ein. Dass manche davon in der Ferne auch alle Vorsichtsmaßnahmen weit hinter sich lassen, hat man gerade erst in Mallorca gesehen. Aber dass das nicht immer nur »die anderen« sind, lässt sich auch in Frankfurt erleben. Je nach gesellschaftlicher Couleur gehen sie Wochenende für Wochenende auf ihrem Opernplatz wieder auf Tuchfühlung, okkupieren den Friedberger Platz, machen Cocktail-Parties im Grüneburgweg oder treffen sich zum Grillen am Mainufer. Wer nicht dabei war, fragt sich ernsthaft, wie etwa 3.000 Menschen auf den Opernplatz passen sollten. Pardon: … passten. Und bunt geht’s zu an diesen Orten. Nicht nur wegen der locker am Ohr oder unterm Kinn baumelnden mehr oder weniger schicken Masken. Und der Müll am nächsten Morgen lässt nicht nur fragen, ob wir nicht vor Corona mal weiter waren. Und das Virus? Ist scheinbar nach Südamerika ausgewandert. Oder ist es dort vielleicht auch nur einfach selbst mal im Urlaub (jhp.)?
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Corona ? War’s das ?
Corona? War da was? Die Zeit der Einkehr? Der Gedanken? Des Nachdenkens? Der Blick über den Horizont wäre gerade jetzt wohl mehr als angebracht. Doch zugleich fällt er gerade jetzt auch nicht leicht. Viele hadern damit, wohin er sich überhaupt richten soll. »Irgendwie normal und schön weiter so«, wäre vielleicht tröstlich, fühlt sich aber auch irgendwie falsch an. Und zwar jeden Tag mehr. Manch eine(r) wünscht sich den weitreichenden Aufbruch, indem wir gemeinsam lernen aus dem, was unter dem Brennglas der Krise in den letzten Monaten schmerzte. Selber machen etwa wäre immer eine gute Idee (auch für den Horizont übrigens). Hier ist in den letzten Monaten Bemerkenswertes entstanden: vielfältiges, individuelles, kollektives, lokales, regionales Engagement, aus der Not heraus, aber auch aus dem Nachdenken darüber, was wichtig ist und wie wir in Zukunft zusammenleben und -arbeiten wollen. In der Stadt wie auf dem Land. Und auch dazwischen wird sich das Leben eigentlich neu ausbalancieren müssen.
Denn die Einschränkungen der letzten Wochen haben den Blick geschärft für das unmittelbare Umfeld. Wochen, welche die Grenzen der globalisierten Welt aufgezeigt haben. Und uns mit der Entschleunigung in den Städten auch die Möglichkeiten, die hier vor unseren Haustüren liegen. Produktion und Handel in der Region, lokale Solidarität, Lebensqualität vor Ort, Urlaub nebenan – Manche Menschen haben völlig neue Entdeckungen gemacht. Regionale Wertschöpfung und Resilienz, die Widerstandsfähigkeit in der Krise, sind keine neuen Konzepte, leuchten nun aber vielleicht doch noch mal ein wenig mehr. Denn in der Region liegt ein enormes wirtschaftliches und soziales Kapital, das sich auch in Zukunft besser nutzen ließe. Dessen Hilfe macht widerstandsfähiger und ganz nebenbei Wirtschaft und Gesellschaft auch nachhaltiger. Und zwar in Harmonie mit fortwährender Weltoffenheit, hinter die nur Ewiggestrige zurückwollen. Und dann ließe sich auch die allseits beschriebene »Systemrelevanz« (Wort oder Unwort des Jahres 2020?) vielleicht wirklich mal neu definieren. Und dann auch über Applaus hinweg auch neu wertschätzen. Auch wenn die Versuchung groß ist: Nach Corona sollte nicht vor Corona sein … (pem.).
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