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Vier Stationen und Perspektiven der Kunst
Quelle: Luca Alexander Tan©

Kleine Kultur-Dates [7]

Blickachsen und Blickwechsel

Kunstspaziergang durch Homburg und Riedberg

Das »O!« − Wohl kein großer Dichter hat diese Ein-Vokal-Vokabel so eindringlich genutzt wie Johann Christian Friedrich Hölderlin. Als Ausdruck des Entzückens, des Erstaunens, des Für-einen-Moment-Entrücktseins. Wohl kaum ein Dichter eignet sich denn auch als natürlicher Pate, in Corona-Lockdown-Zeiten urplötzlich Kunst zu entdecken. Kunst etwa, die plötzlich am Wegesrand herumsteht. Einen kleinen Parcours solcher überraschender Kunstwerke haben in den ausklingenden Lockdown-Tagen des Frühjahrs Studierende der  Offenbacher Hochschule für Gestaltung (HfG) durch Bad Homburg gezogen. Eine Gruppe abstrakter Skulpturen, eine Grube mit merkwürdigen Figuren, ein unversehens in der Landschaft stehendes Geländer – dies sind nur drei der sechs Stationen, mit denen deren Parcours Hölderlin und dem »O!« derzeit über die Stadt verteilt huldigen und unversehens corona-affine Kunst ins Auge der Betrachter*innen bringt. Auf eigentümliche Weise springen die Stationen dabei übrigens immer wieder zwischen dem Heute und der Zeit Hölderlins vor zweieinhalb Jahrhunderten – und schaffen damit nicht nur optische, sondern auch inhaltliche Blickwechsel.

Corona-konformer Kulturgenuss im Freien ist aber wohl auch nach dem Lockdown noch für eine Zeitlang der sicherste Weg, die Welt der Kunst zu betreten und sich von der Innenwelt, dem Zuhause und dem digitalen Sehen, auf das man lange zurückgeworfen war, zu entfernen. Unser Weg des Sehens führt uns von Bad Homburg zunächst in den benachbarten Frankfurter Stadtteil Riedberg – ein Ort, den man nicht zuerst mit Kunst assoziiert. An der Südseite des Campus Riedberg in der Nähe des Wissenschaftsgartens befindet sich die Großplastik »Reliquie Mensch (liegend)« von Michael Morgner aus dem Jahr 1995. Betrachtet man sie frontal, erkennt man einen Körper, der einem Menschen ähnelt. Beim Betrachten aus einer leichten Vogelperspektive, erkennt man jedoch ein Positiv-Negativ-Prinzip: Die aufgerichtete Skulptur stellt das Positiv zum Boden mit einem negativen Abdruck jener Skulptur dar und wirkt wie aus der Platte entnommen. Durch die Ambivalenz der Umwelt wie beispielsweise regnerisches oder sonniges Wetter wird die Relativität der Blickwinkel unterstrichen; der Stahl glänzt, wirkt matt oder reflektiert. Etwas weiter im Norden auf dem Campus und etwas höher gelegen auf dem Riedberg, findet man das »Dreifachtor«; eine Skulptur von Volker Bartsch aus dem Jahr 1999. Er thematisiert mit seinem Werk das Tor-Motiv, woraus sich wiederum verschiedene Bedeutungsebenen bezüglich des Blickwinkels ergeben. Das Tor verbindet zwei Räume miteinander, das Innere und das Äußere. Gleichzeitig stellt es die klare Abtrennung zwischen den Räumen dar. Es stellt den Mittelpunkt des noch jungen Viertels der Mainmetropole dar und wird umschlossen von einem 460 Meter langen Band: Die Rede ist vom Riedbergzentrum. Auf der Spitze des Hügels befindet sich jenes Zentrum, für welches der Frankfurter Künstler Klaus Schneider ein Fassadenband entwickelte. Beschriftet wurde es mit einem Text in Braille-Schrift, welche in Kontrast mit den strengen, kubischen Elementen der Architektur steht. Schneider hebt an seinem Kunstwerk »Erkennende Wesen« den Unterschied zwischen Sehen und Erkennen hervor. Sieht man die Punkte, denken sich die Betrachter*innen, sie zählen zur Ästhetik des Gebäudes. Erst nach längerem Hinschauen erkennt man ein Schriftsystem und muss die für Blinde entwickelte Schrift entschlüsseln. Durch die Subtilität des Werkes erkennen auch viele Riedberger im ersten Moment nicht das Kunstwerk. Sicht, so Schneider, ist eben nicht direkt Einsicht.

Zurück noch einmal nach Bad Homburg. Krieg, Hunger und Angst – die drei Großskulpturen der dortigen »Blickachsen« regen Betrachter*innen ebenfalls an, Werke aus unterschiedlichen Winkeln zu betrachten, um die teilweise ernsten Themen in den friedlichen Gärten zu begreifen. Alle zwei Jahre von Mai bis Oktober lassen sich die »Blickachsen« als jeweils eigenes kleines Kunstfestival neu in Parkanlagen in Bad Homburg und Frankfurt am Main finden (und meist von da an auch noch über einen längeren Zeitraum). Als Orte der Entspannung werfen die Parkanlagen dabei ein neues Licht auf die zeitgenössischen Werke: Sie gehen eine Wechselwirkung mit der Natur ein und spielen mit den landschaftlichen Konditionen. Wer rechnet schon mit zehn großen, abstrahierenden Figuren mit dem Motiv »Krieg« zwischen alten Sumpfzypressen und Speierlingen? Mit der Umgebung ergibt sich ein neuer Blickwinkel der Wahrnehmung der »Ten Seated Figures«, die sogar noch ein Werk der Blickachsen aus dem Jahr 2011 sind. Obwohl die diesjährigen Blickachsen aufgrund der Pandemie abgesagt werden mussten, lassen sich dennoch viele der Werke aus den vorherigen Jahren noch erkunden – zum Sehen als auch zur Einsicht. Hölderlin hätte wohl oft einfach mal »O!« gesagt … (Luca Alexander Tan).