©

Impulse | Die Welt im Blick behalten

Safety first – nur welche Sicherheit?

medico-Autoren über Nairobi, Gaza City und Ramallah

Nairobi in Kenia. Ende März hatte die Regierung von Präsident Kenyatta eine Ausgangssperre von 19 Uhr abends bis 5 Uhr morgens verkündet. Begründung: die Bevölkerung könne in den Abendstunden die Sinnhaftigkeit des »social distancing« aus dem Blick verlieren. An sich ein löblicher Ansatz. Doch nicht in Staaten, in denen Sicherheitskräfte oft alles andere als zimperlich mit der eigenen Bevölkerung umgehen. Ein Beispiel: Matatus – Kleinbusse, die oft mehr Personen befördern, als sie Sitzplätze haben – sind in Kenia das gängigste Verkehrsmittel und werden täglich von Millionen Menschen genutzt. Dies gilt vor allem in Metropolen wie Nairobi, in denen ein Drittel der Bevölkerung lebt. Anstelle die Kapazitäten aufzustocken und mehr Raum zu schaffen, der physischen Abstand ermöglicht, wurde allerdings der Betrieb der Matatus stark eingeschränkt. Die Folge: ein Anstieg der Fahrpreise. Denn die Mehrheit der Bevölkerung, die im informellen Sektor arbeitet, ist auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen. Zweite Folge: Tausende standen abends in Warteschlangen an Busbahnhöfen, auch weit über 19 Uhr hinaus. Doch die Ausgangssperre wird mit brutalen Mitteln durchgesetzt. Es kursieren Bilder, auf denen Menschen schon vor 19 Uhr von der Polizei misshandelt, geschlagen und zusammengepfercht werden. Auch Journalisten oder Fahrer von Lebensmitteltransporten wurden nicht verschont. Ein Missbrauch der Menschenrechte und Grundfreiheiten, wie sie in der kenianischen Verfassung verankert sind. Darüber hinaus birgt das Agieren der Polizei die Gefahr, das Virus sogar weiter zu verbreiten. Das grundlegende Problem dahinter hat allerdings keineswegs etwas mit Corona zu tun …

Szenenwechsel: In palästinensischen Städte wie Ramallah, Nablus oder Gaza City waren Lock downs schon vor Corona Alltag. Ausgangssperren dienen dort oft zur kollektiven Bestrafung und »Disziplinierung« der Zivilbevölkerung, etwa während der zweiten Intifada. Die israelische Armee ergreift solche Maßnahmen routinemäßig gegen Orte, aus denen (vermeintliche) Attentäter*innen stammen, oder wenn sich Bewohner*innen gegen die Armee auflehnen oder gegen die Übernahme von Feldern und Quellen durch israelische Siedler. Und schon in »normalen Zeiten« dürfen viele der fast drei Millionen Palästinenser*innen die Westbank oder Gaza nicht einfach verlassen, zumindest nicht Richtung Israel, Ost-Jerusalems oder ins jeweils andere Territorium.

Seit Wochen aber riegeln im Kampf gegen Corona palästinensische Kräfte Ramallah, Nablus und Hebron fast vollends ab. Auch Bewegungen zwischen den Orten werden nun unterbunden. Bethlehem, im Westjordanland die Stadt mit den meisten Corona-Fällen, wurde schon früh durch die israelische Armee abgeriegelt. Palästinensische Kräfte tun das ihrige im Innern. Auch innerhalb der Städte sollen sie durchsetzen, dass die Bevölkerung ihre Mobilität auf das notwendige Mindestmaß reduziert: Arztbesuche und Gänge zum Supermarkt oder in die Apotheke. Es geht die Angst um vor einem größeren Covid-19-Ausbruch. Die Westbank und Gaza sind dicht besiedelt mit Städten und Flüchtlingslagern. Die Lebensverhältnisse innerhalb der Familien als auch unter Nachbarn sind so beengt, dass nur schwer vorstellbar ist, wie Maßnahmen wie social distancing oder gar Quarantäne konsequent durchgeführt werden sollen. Dazu kommt ein chronisch überfordertes Gesundheitssystems. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind bisher nur einige Hundert Corona-Fälle registriert (allerdings hat das Gesundheitssystem nur geringe Testkapazitäten). Gaza und die Westbank verfügen aber laut WHO gerade einmal über rund 120  intensivmedizinische Plätze mit Beatmungskapazität. Rechnet man die Plätze in Privatkliniken hinzu, kommen auf rund auf rund fünf Millionen arabisch-palästinensische Einwohner*innen rund 300 Plätze.

Auch wenn die besonders harten Maßnahmen nur temporär sein sollten. Beschränkungen, wie wie sie jetzt in Europa kennen, sind Alltag hierzulande. Und mehr als ein Problem. Wieso sollte sich ein junger Mensch in Gaza für einen guten Schulabschluss anstrengen, wenn sein Wunschfach dort an keiner Universität unterrichtet wird, sondern nur in Birzeit auf der Westbank? Er weiß, dass die israelische Civil & Liaison Administration (CLA) in Erez ihn sowieso nicht aus dem Küstenstreifen lassen wird. Wie planen Patient*innen ihr weiteres Leben, die für medizinische Behandlungen auf Zugang zu Krankenhäusern in Ost-Jerusalem, Ramallah, Nablus oder Israel angewiesen sind? Und was bedeutet es in einigen Fällen für ihre Chance zu überleben, wenn rund 40 Prozent aller Patient*innen aus Gaza ihre Termine versäumen, weil eben jene CLA ihre Anträge ablehnt, zu spät genehmigt oder nicht bearbeitet? Das Grundproblem dahinter ist allerdings auch hier der überbordende Sicherheitsapparat. Seit Jahren fließt ein Drittel und mehr des Haushalts der palästinensischen Autonomiebehörde in dessen Unterhalt. Und dabei glänzen Polizei und Sicherheitskräfte selten als Freund und Helfer, sondern erfüllen vor allem zwei Aufgaben: einerseits die Absicherung der Macht nach innen, sowohl gegen Proteste der eigenen Bevölkerung als auch gegen die politische Opposition, und andererseits die Sicherheitskoordination und -kooperation mit dem jeweiligen israelischen Gegenüber zugunsten der israelischen Sicherheit, wobei der Sicherheitsbegriff extrem weit gefasst ist. Auch hier ein Problem weit über den Tag hinaus …