Künstlerinnen. Leben. Orte. [17]
Anna N. – Die Ambivalente
Immer mal in mehreren Welten und Werken
Es ist ruhig im ehemaligen Gebäude der »AdA«, der Europäischen Akademie der Arbeit, auf dem Campus Bockenheim. In der ersten Etage hat Anna Nero ihr Atelier. Seit zwei Jahren arbeitet sie dort, doch längst ist ihr Blick bereits wieder auf einen baldigen Umzug in eine Ateliergemeinschaft im nahen Stadtteil Ginnheim gerichtet. Das Atelier in der AdA ist nur eine Zwischennutzung. Wann genau sie umzieht, stehe aber noch nicht fest, sagt sie. Vermutlich im Herbst. Die AdA wandelt sich gerade in ein Vorzeigeprojekt für gemeinschaftliches Wohnen. Auf dem Weg dahin sind immer mal wieder Räume frei, so auch der ehemalige Unterrichtsraum, den sie über das Atelierhaus Basis vermittelt bekam. Für zwei Jahre war er ihr »Arbeitsmittelpunkt«. Mit reichlich Platz. Für große und kleine Leinwände, angelehnt an den Wänden oder auf dem Boden liegend zum Trocknen. Mal ist es die Ölfarbe, die trocknet, um den nächsten Farbauftrag möglich zu machen, mal eine Grundierung, die sie zur Vorbereitung ihrer Bildgründe nutzt. Mindestens 60 bis 70 Tuben Ölfarbe liegen nach Tönen sortiert am Rande einer großen Glasplatte unweit der Fensterfront. Nero, die in Leipzig Malerei an der Hochschule für Grafik und Buchkunst bei Ingo Meller und Oliver Kossak studiert hat, nutzt diese als Palette zum Anrühren der Farben. Fast sind es schon eigene abstrakte Kunstwerke. Auch ihre Gemälde sind Abstraktion, lassen aber auch gegenständliche, erotisch konnotierte Interpretationen zu – ganz subtil. Erotische Kunst ist ihr nicht fremd, Begriffe wie Fetischismus oder beseelte Objekte ebenso wenig. Es ist vor allem die Auseinandersetzung mit Farbe, Form und Raum, die auf den zweidimensionalen Flächen sichtbar wird. Die Künstlerin arbeitet dabei immer an mehreren Werken gleichzeitig.
Der Wechsel, Vielseitigkeit und Ambivalenzen scheinen das Leben der Künstlerin Anna Nero zu durchziehen. Kunst scheint ihr dabei in gewisser Weise in die Wiege gelegt worden zu sein. Geboren wurde sie in einer jüdischen Künstlerfamilie in Moskau. Aber bereits im Alter von acht Jahren kam sie aus der damaligen Sowjetunion nach Deutschland. Ihre Mutter Julia Ovrutschski und ihre mittlerweile verstorbene Großmutter Tatiana Ovrutschski, die beide noch in Moskau Kunst studiert hatten, wurden Malerinnen. Nero hat manches von ihnen – aber auch wieder nicht. Auch sie malt, formt aber auch skulpturale Objekte aus keramischen Materialien. Früher habe sie sich vorstellen können, sogar einen ganz anderen Beruf zu ergreifen, etwa Jura zu studieren. Und doch sei es am Ende der Weg geworden, den bereits Mutter und Großmutter genommen hatten. Ambivalenz steckt auch in den Orten ihres Lebens. Bockenheim ist längst ihr Zuhause geworden. Sie sieht sich, wie sie sagt, als »Ur-Frankfurterin« – und liebe die Stadt mit ihrer Internationalität und Diversität. Sie lebt in einer Wohnung in einem Hinterhaus in Bockenheim. »Auch meine Eltern leben in dem Haus, in dem es eine gute Gemeinschaft gibt«, sagt sie. Und Moskau? »Kein Ausgang« steht in kyrillischen Buchstaben auf Neros rechtem Unterarm tätowiert, auf der anderen Seite hat sie sich die Hausnummer des Gebäudes, in dem sie einst in Moskau wohnte, stechen lassen. Zusammen mit einer Freundin aus Kindertagen. Es sind ihre ganz persönlichen Erinnerungen an ihre Zeit in der ehemaligen Sowjetunion. Eine Zeit, an die sie auch gerne zurückdenkt, wie immer wieder durchschimmert. Eine klare Linie hingegen zieht sie zu dem »politischen Moskau« von heute. Zum Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine bezieht sie klar Stellung. Klar dagegen. – Privates und Berufliches trennt Nero gerne. In ihrer Wohnung befindet sich zwar Kunst. Aber keine Bilder von ihr, nur Arbeiten anderer Künstler*innen. Auch die Motivation für ihre Kunst ist eine besondere: »Als Künstlerin«, sagt sie, »schafft man Dinge, die für andere Menschen Bedeutung haben«. Und das sei ihr wichtig in diesem Leben … (alf.).