Zu bestimmten Zeiten erfuhr Darmstadts Kulturleben einen Schub mit Strahlkraft. So in den 1920er Jahren mit Literatur, Theater, Kunst des Expressionismus. Oder in den 50er bis 70er Jahren, als die Tage für Neue Musik, kühne Bühneninszenierungen sowie Ausstellungen betont zeitgenössischer Kunst den Anschluss an die internationale Moderne ermöglichten. In einer neuen Ära und mit veränderten Medien möchte in dem mittlerweile »Wissenschaftsstadt« geheißenen Darmstadt der ambitionierte Verein »Kultur einer Digitalstadt« einen ebensolchen Schub mitgestalten – kurioserweise im ziemlich analog-idyllischen Umfeld auf der Darmstädter Rosenhöhe.
Es ist fast eine Annäherung im Zeitraffer. Der Weg zum LEW1 – das Kürzel steht für die Adresse Ludwig-Engel-Weg 1 – führt erst einmal durch ein altehrwürdiges Baudenkmal: das wuchtige Löwentor des Jugendstil-Künstlers Bernhard Hoetger, eines der mächtigen Portale zur ansonsten eher beschaulich-weitläufigen Darmstädter Parkanlage Rosenhöhe unweit der Mathildenhöhe. Gleich nach dem Portal der nächste Zeitsprung: über einen kleinen Seitenweg neben der alleenhaften Hauptachse des Parks gelangt man zu diesem LEW1 mit seiner selbst mittlerweile fast historischen Bausubstanz. Es ist einer nämlich von sieben 1967 eingeweihten, architektonisch identischen Wohn-Atelier-Komplexen, mit denen die Stadt Kulturschaffende hier mitten im Park ansiedelte. Puristisch-strenge Atelierhäuser mit viel Glas, kleinem Wohn- und großzügigem Arbeitstrakt, die Literat*innen, Maler*innen, Bildhauer*innen ein Zuhause gaben – der Ansatz zu einer »Künstlerkolonie 2.0« sozusagen. Und in dem – man hat fast schon das Bild einer russischen Matrjoschka vor Augen – heute wiederum der Verein »Kultur einer Digitalstadt« zu Hause ist mit »einer Plattform für künstlerische Forschung, fachübergreifende Diskussionen und kulturelle Vernetzung in der Digitalstadt Darmstadt«. So zumindest die Selbstdarstellung des kleinen Vereins rund um die beiden Fotografen und Medienkünstler Albrecht Haag und Lukas Einsele.
In Anlehnung an die vom mäzenatisch aktiven, fortschrittsfreudigen hessischen Großherzog Ernst Ludwig 1899 gegründete Künstlerkolonie auf der Mathildenhöhe könnte man also mittlerweile von einer »Künstlerkolonie 3.0« sprechen. Der Vorstoß dazu kam 2017 von Einsele, Haag und ihren Mitstreiter*innen. Damals hatte Darmstadt gerade den Bitkom-Wettbewerb »Digitale Stadt« gewonnen. Mit der Politik waren die KeD-Leute sich schnell einig im Ideal einer transformierten und transformierenden Modellkommune, wo die Neuen Medien nicht nur unter technologischen und ökonomischen, sondern endlich auch unter kulturellen, inklusive alltagsgesellschaftlichen Aspekten gesehen und genutzt werden (sollen). Die erste Anerkennung städtischerseits: miet- und nebenkostenfreie Überlassung des LEW1. Das eigentliche Programm finanzieren sodann Sponsoren, etwa große Kulturförderer wie der Kulturfonds Frankfurt RheinMain oder die Aventis Foundation. Und mit deren Geld kommt buchstäblich Leben in die beschauliche(n) Bude(n). Pro Jahr finden im LEW1 15 bis 20 Veranstaltungen statt. In den Räumen – und im Sommer auch schon mal auf einer flachen Bühne im sonst etwas wild wuchernden Garten – wird debattiert, geforscht, gestaltet, ausgestellt: zum Beispiel in Diskussionsrunden zu Themen im Spannungsfeld von Digitalität und Demokratie oder in Ausstellungen, auf denen die Resultate einer eigenen Artist-in-Science-Residence vorgestellt werden.
Gearbeitet und gesponnen wird im LEW1 gerne in Kooperation mit regionalen wissenschaftlichen Instituten wie Fraunhofer oder ESOC (European Space Operations Centre), etwa mit Stipendienaufenthalten von Künstler*innen aller Disziplinen und oft auch aus aller Welt. 2022 etwa war eine Hamburger Künstlerin zu Gast und beschäftigte sich in ganz eigener Art mit dem Weltraum: von alten Zahlenkolonnen über künstlerische Interpretationen der Sterntaler bis hin zu Comiczeichnungen von Weltraumheldinnen (bewusst ohne Binnen-*, da in diesem Genre sonst immer nur Männer zu Hause zu sein scheinen). Und in diesen Zeiten war vor der kleinen Anlage auch schon mal ein großer Plakataufsteller mit dem Schriftzug »Ich möchte mit Ihnen über Weltraumschrott reden« zu lesen. Und, oh Wunder: Nicht wenige sonntägliche Parkflaneur*innen fanden damals offenbar den Weg ins Innere des LEW1. Seit diesem Frühsommer gibt es wieder eine neue Reihe von Artists in Science. So arbeitete etwa die iranisch-kanadische Künstlerin Mona Hedayati sechs Wochen im LEW1 an ihrem Multimedia Projekt »Breathless«, in dem sie sich sowohl grundsätzlich mit der Erfahrung des Exils als auch – brandaktuell – mit den Protesten gegen das Mullah-Regime in ihrem Herkunftsland auseinandersetzte. Als Fernziel schwebt »Kultur einer Digitalstadt« vor, sich noch gehörig über ihr beschauliches Refugium hinaus auszudehnen: In Planung ist die Erstellung einer Art Kulturkarte, welche das Kulturleben, dessen Akteur*innen und deren Publikum in Stadt und Region vernetzen und vielfach auch erschließen soll. »Wenn uns eins deutlich geworden ist bisher«, so die Protagonisten, »dann, wie viele Künstler zu entdecken sind außerhalb der üblichen Standards«. Womöglich sind sie hinter den Kulissen des LEW1 bereits auf dem Weg zur Künstlerkolonie 4.0 … (roh).