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Kunst und Wissenschaft - Exemplarisch im Liebieghaus Frankfurt
Quelle: Liebieghaus©

Essay | Kulturfragen

Frage(n) der Perspektive(n)

Was Kunst und Wissenschaft verbindet

Kunst und Wissenschaft sind alte Zwillingsschwestern, die im Laufe einer langen Geschichte getrennt wurden. In jüngster Zeit finden sie aber immer öfter wieder zusammen, schaffen neue Räume für Erkenntnisgewinne und sogar neue künstlerische Formen. Ein Essay von Volker Stahr mit Blick auf zahlreiche Projekte und Ausstellungen im Jahr 2023. 

»Ich möchte mit Ihnen über Weltraumschrott reden«. Weltraumschrott? Hier in der Idylle der Darmstädter Gartenanlage Rosenhöhe, unweit des UNESCO Welterbes Mathildenhöhe? In dem beschaulichen Grün der weiten Anlage, zwischen Bäumen am Rande der kleinen Allee zum Löwentor? Dort, wo die schlichten Atelierbauten der 1950er/60er Jahre stehen? Künstlerin Swaantje Güntzel hatte im Herbst 2022 dort die flächige Plakatwand mit eben dieser Aufschrift vor dem letzten der Atelierhäuser an den Wegrand gestellt. Der Grund: Ihre Ausstellung zur »Artist-in-Science-Residence« beim Verein »Kultur einer Digitalstadt«, der gerne Kunst auf dem schmalen Grat zwischen Kunst und Wissenschaft, vor allem im Digitalen, präsentiert.

In ihrer Residence hatte sich die Künstlerin in comicartigen Porträts von Weltraumheldinnen (die Betonung lag auf »-innen«, da in dem Genre sonst fast ausschließlich Männer dargestellt werden), in akribisch aufbereiteten und gegenübergestellten Daten zu Weltraumschrott aus der Mitte des letzten und vom Beginn dieses Jahrhunderts oder in ihren Sterntaler-Adaptionen mit der künstlerischen Sicht von Welt (und) Raum beschäftigt, entstanden in Kooperation mit den Instituten ESA und ESOC der Wissenschaftsstadt. Doch das Ganze sollte nicht nur l’art pour l’art sein. Deshalb das Plakat – und die Überraschung: An mehreren Wochenenden fanden zahlreiche Menschen den Weg weg vom Weg in eben jene Ausstellungsräume zu ganz individuellen Gesprächen über Sein und Schein von Kunst und (Welt-) Raum …

Szenenwechsel, Frankfurt, Anfang 2023. Im tiefen, hier sehr (bau-) boomenden Ostend befindet sich in einem alten Verwaltungsbau Hessens größtes Atelierhaus. Gut 200 Künstler*innen haben dort im Atelierfrankfurt in 140 Studios Platz zum kreativen Arbeiten. Darunter auch Jana Hartmann (in Darmstadt »nebenbei« auch gerade als Stadtfotografin unterwegs). Sie hat sich im Keller des Hauses in einer Ausstellung künstlerisch mit der Erforschung und vermeintlichen Beherrschung der Natur von der Alchemie bis zur Verlängerung von Leben, dem Wunsch nach Älterwerden also, auseinandergesetzt.

Ein Stockwerk höher, im etwas schummrigen Barraum des Künstler*innenhauses tummeln und drängen sich an jenem Abend gegen Hundert Menschen, Ältere und Jüngere, eine bunte Mischung. Der Andrang ist groß, Stühle müssen extra aufgestellt werden. Für eine Art Science-Slam-Podiumsgespräch mit der Künstlerin, einem Biologen und einer Beraterin. »Perspektivwechsel« war deren Gespräch über das Altern überschrieben. Artist trifft Scientist, Gefühl trifft Intellekt. Es geht um die – wissenschaftliche – Frage, wie alt man(n)/frau werden kann. Und um die eher gesellschaftliche Dimension des »Wie alt man(n)/frau werden will und sollte?«. Mögliches trifft Wünschenswertes, Messbares die menschengemachte und -gerechte Selbstoptimierung. Während manche noch der Frage nachgehen, welches Glück der medizinische Fortschritt sein könne, fragen andere, ob sie auch wollen, dass die Putins und Musks dieser Erde 200 Jahre alt werden. Initiiert wurde das Gespräch von der Künstlerin.

Darmstadt und Frankfurt – Es sind nur zwei Beispiele aus den letzten Monaten im Rhein-Main-Gebiet. Zwei Beispiele, wie die eher dem Impuls folgenden Genres Kunst und Kultur einerseits und die eher dem Intellekt folgende Wissenschaft andererseits sich zunehmend auf interessante Art und Weise treffen. Vorab: Es ist an sich kein ganz ungewöhnliches Stell-Dich-Ein. Kunst und Wissenschaft sind schon früher eigentlich ein treffliches Paar gewesen. Es gab Zeiten, etwa in der Antike und bis weit in die Renaissance hinein, in denen (Natur-) Wissenschaften selbst als »Kunst« galten.

Man denke etwa an Leonardo da Vinci, der vor allem einmal ein großer Universalgelehrter war, Künstler und Wissenschaftler in einem. Auch wenn natürlich die Menschheit mit ihm zuerst seine »Mona Lisa« verbindet, kommen aber schnell danach seine berühmten anatomischen Studien und Zeichnungen. Und er stand damit nicht allein. Seine Haltung, die Welt zu verstehen durch Impuls und Intellekt, war für ihn der Grundstein einer gemeinsamen Disziplin. In der Aufklärung trennten sich die beiden Geschwister, indem zunehmend die »Schönen« von den anderen Künsten separiert wurden. Für eine gewisse Zeit und zeitweise bis heute marschierten sie nebeneinander her – schauten auf die Welt von scheinbar unterschiedlichen Perspektiven.

In gewisser Weise liegt diesen beiden Perspektiven das Begriffspaar »subjektiv« (Kunst) und »objektiv« (Wissenschaft) zu Grunde. Wiewohl schon jeder Journalist und jede Journalistin, die sich um jene »Objektivität« bemühen (sollten), wissen, dass alleine, da sie Menschen sind, die vollständige Objektivität eigentlich schon ausgeschlossen ist. Man(n)/frau kann noch so objektiv berichten, schon die Auswahl des Themas ist subjektiv. Insofern verschwimmen in dem Moment, in dem das Denken hinzutritt, die Grenzen. Andererseits könnten womöglich eine 100-prozentig subjektive oder eine 100-prozentig objektive Sichtweise (so es sie für Menschen gäbe) die Welt nicht erfassen.

Pars pro toto sei hier nur das Beispiel aus dem Gespräch aus Frankfurt genannt: Auch wenn jeder Mensch 200 Jahre alt werden könnte, wollte man(n)/frau das und wollte man(n)/frau es für alle? – Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die Kunst und die Wissenschaft sich wieder annähern, wenn es darum geht, die Welt zu erfassen. Selbst, wenn es nur darum geht, sie zu verstehen. Allein das Duale scheint es zu ermöglichen, zu verstehen. Nicht von ungefähr üben diese Grenzgänge eine solche Faszination aus, wie insbesondere das gewollte Zusammenbringen der Menschen im Frankfurter Atelierhaus, aber auch das zufällige Ansprechen der Menschen beim Sonntagsspaziergang über Darmstadt, scheinbar fernab von Kunst und Wissenschaft, zeigen. Müßig zu fragen, ob eine rein wissenschaftliche oder rein künstlerische Herangehensweise in akademischer Diskussion oder künstlerischer Vernissage ebenso viele Leute zusammengebracht und so vielfältige Ergebnisse und Erkenntnisse hervorgebracht hätte(n) …

Beispiele für solche Grenzgänge gibt es mittlerweile viele. Besonders prominent ist in diesem Jahr 2023 eine Ausstellung im Frankfurter Liebieghaus, die sich unter dem Titel »Maschinenraum der Götter« explizit dem engen Miteinander von Kunst und Wissenschaft über die Zeiten und die diversen Kulturen hinweg widmet. Es geht dabei um die Geschichte der Wissenschaften in den antiken, den arabischen und den asiatischen Kulturen und ihren Einfluss auf die Kunst. Im Fokus stehen dabei vor allem dabei die Antike der »alten« Griechen und die Hochzeiten der Araber und anderer muslimischer Reiche, die in ihren Blütezeiten stets auch einen gemeinsamen Begriff für Kunst und Wissenschaft in ihren Kulturen hatten und die Wissenschaft quasi stets als eine Kunst definierten.

Ebenfalls in Frankfurt war kürzlich die sehr sinnig »Contact Zones« geheißene Ausstellung im Museum Angewandte Kunst zu sehen. Hierzu lud das Frankfurter Max-Plank-Institut für empirische Ästhetik Künstler*innen zum Dialog und zur Arbeit mit Wissenschaftler*innen ein. Der Begriff »Contact Zones« stammt übrigens ursprünglich aus den Kulturwissenschaften und benennt soziale Räume, in denen Kulturen aufeinandertreffen. Auch die Kunsthalle in Mainz bewegt sich immer mal wieder auf diesem Grat. »Homosphäre« war etwa im Herbst 2022 eine Gruppen-Ausstellung überschrieben, in welcher sich zahlreiche Künstler*innen kreativ mit dem Homosphäre genannten Luftraum um uns herum beschäftigten. Ein ohne Zweifel auch gesellschaftlicher Raum, nicht erst seit Aerosole darin zum Politikum wurden …

Nicht selten kommen diese Grenzgänge heutzutage aber auch fast beiläufig daher. Das fast schon natürliche Medium dafür scheint das Digitale zu sein. Nicht von ungefähr trieb dies deshalb so einige Blüten gerade in der Corona-Zeit. Die phantasielose Variante bestand dabei oft darin, analoge Kunst mehr oder minder abfotografiert oder gefilmt ins Internet zu stellen. Dass es auch kreativer geht, belegt ein letzter kleiner Szenenwechsel nach Wiesbaden. In den Nassauischen Kunstverein, der schon immer einen guten Ruf für innovative und grenzüberschreitende Performances und Perspektiven hatte. Eine davon entstand im Zusammenspiel mit einer Filmklasse der Kunsthochschule Mainz.

Eine Biene, eine Spinne, eine Schlange, eine Kakerlake und sogar ein veritabler Hai wurden in den Räumen des Kunstvereins ausgesetzt. Nein, natürlich nicht wirklich, sondern als kleine Spielzeugroboter, die jeder für sich mit einer Kamera die Räume erkundeten. Schon per se ist es eine charmante Idee, mit den Augen von Spinne oder Schlange durch einen Ausstellungsraum zu gleiten. Hier galt dies noch mehr, widmete sich doch die betrachtete Ausstellung »Artentreffen« dem Mit-, Neben- und Gegeneinander von »Tier« und »Mensch« mit Metamorphosen, Rollentauschen, Größenverschiebungen und dem Verschwimmen der gegenseitigen Grenzen. Mit neuen Perspektiven nun, indem die Idee auf den Kopf gestellt und in den digitalen Raum transferiert wurde. Wohl selten verschwommen Ebenen von Kunst, Wissenschaft und Denken derart, wie bei dieser – nur scheinbaren – Spielerei in Wiesbaden.

Längst entwickelt sich im Digitalen auch eigene Kunst. Es entstehen erste Labs. Aus dem Zwei- wird ein Dreiklang aus Kunst, Digitalem und Wissenschaft. Zugegeben: Vieles ist noch Spielwiese, aber manches auch schon zu erleben. In Frankfurt experimentieren Programmierer*innen von »NODE« (benannt nach einer Programmiersprache) mit neuen Formaten: etwa einem realen TV-Studio, in dem Gäste digital präsent waren und die real-digitale (Kultur-) Zukunft und eine »Second Nature« hinterfragten, oder einem »Green House«, das real und digital begehbar war und in dem man Fragen der Nachhaltigkeit nachging. Von der anderen, künstlerischen Seite her kam »PAD« (kurz für: »Performing Arts und Digitalität«) in Darmstadt: ein Festival-Versuch, Chancen, Risiken und vielleicht auch Nebenwirkungen der Digitalisierung der bisher recht analogen Theater-, Tanz- und Performance-Welten auszuloten – mit zahlreichen online und offline aufgeführten Beispielen sowie ein paar diskursiven Elementen. Aber dass Darmstadt ein gutes Pflaster für neue Eindrücke einer digitalen Kultur-Zukunft auf dem längst nicht mehr schmalen Grat zwischen Wissenschaft und Kunst ist, war ja schon am Beispiel der Weltraumschrott-Diskurse auf der Rosenhöhe sichtbar … (vss.).