Kurzessay | Songs, so wrong [2]

Das Mädchen, das Lollis mag?

»Les Sucettes« von Serge Gainsbourg

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Aus: Musiker in Frankfurt | (c) Barbara Walzer

»Was glaubst Du, wovon handelt der Song?«, fragt ein lässig qualmender Serge Gainsbourg seine Gegenüber France Gall. Die 18-Jährige lächelt etwas unsicher: »Von einem Mädchen, das Lollis mag?«. Gainsbourg grinst und schweigt. Es schmerzt fast, die alte Schwarz-Weiß-Szene in einem YouTube-Clip zu sehen. »Les Sucettes« ist ein Titel, den Gainsbourg in den 60er Jahren für Gall geschrieben und den diese damals völlig unbekümmert ins Mikro gesäuselt hatte. Eine alte Schwarz-Weiß-Performance zeigt die fast noch kindlich wirkende Interpretin inmitten von wippenden Riesenlutschern, dagegen geschnitten sind Bilder mondän gestylter Models, die sich mit verruchtem Blick Süßstangen in den Mund schieben.

»Les Sucettes«, das auch beschreibt, wie der Anissaft die Kehle der Sprecherin hinunter rinnt, ist natürlich nur oberflächlich ein Song über ein unbescholtenes Mädchen und seine Vorliebe für Lollis. Tatsächlich geht es natürlich um Oralverkehr. Das Unfassbare daran ist, dass nicht nur Teile der französischen Öffentlichkeit eine Zeit brauchten, um diese so offensichtlichen sexuellen Konnotationen zu verstehen, sondern auch die junge Interpretin selbst. Bei YouTube sind auch spätere Kommentare von Gainsbourg und Gall zu sehen. Da amüsiert sich der Songschreiber noch lange Zeit danach über seinen vermeintlichen Coup, während die Interpretin gesteht, wie sehr sie sich geschämt habe, als ihr bewusst geworden sei, in was Monsieur Gainsbourg sie da hineingeritten hatte.

Sicher kann man dem Enfant terrible Gainsbourg vorwerfen, dass er seine schlüpfrigen Machofantasien auf Kosten der jungen Frau ausgelebt und sich – gelinde gesagt – einen reichlich dummen spätpubertären Scherz erlaubt hatte. Andererseits sagte seine Provokation auch einiges über die Moral seiner Zeit und den Kulturbetrieb aus. 1966, als der Song erschien, war die französische Gesellschaft wohl noch nicht so weit wie in anderen Ländern, wo die sexuelle Revolution bereits Fahrt aufgenommen hatte. Gleichzeitig war »Les Sucettes«, so die Journalistin Fabienne Hurst, »auch ein Seitenhieb gegen das bizarre Geschäft mit unerfahrenen Popsternchen, die über Liebe, Lust und Leben singen, aber keine Ahnung davon hatten«. Hurst spricht von Gainsbourgs fast strategisch wirkender Erfindung des »Baby-Pop«: »Eingängige Popliedchen mit oberflächlich wirkenden Texten, die erst auf den zweiten Blick die absurden Machenschaften der modernen Musikindustrie offenlegten.« (ted.).