Essay | »SOS Brutalismus«

Brutalismus neu entdecken

Von Oliver Elser, Kurator »SOS Brutalismus«

Kurator Oliver Elser fordert eine neue Definition und einen eigenen Stellenwerk für die Architektur des Brutalismus

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Eine Universität in Israel | Beer Scheva + Ben Gurion University | © DAM / Gili Merin (2017)

Es ist überfällig, die brutalistische Architektur neu zu definieren. Der Brutalismus von heute ist nicht mehr der Brutalismus, den die »Erfinder« und Avantgardisten des Begriffes, Reyner Banham und die Smithsons, zwischen 1953 und 1966 in die Architekturdiskussion eingebracht hatten. Mit Staunen beobachtet die Fachwelt, dass die brutalistische Architektur zuletzt eine zweite, steile Karriere auf Social-Media-Kanälen gemacht hat. Durch Instagram, Facebook und Tumblr ist der Brutalismus zum Synonym für jegliche Bauten aus Sichtbeton geworden, ganz unabhängig davon, wann, wo und für welche Zwecke sie gebaut wurden. Verlage bringen Coffeetable-Books heraus, die eine Brutal World der Betonarchitektur als wilden Mix der größten Hits zwischen 1960 und heute mit süffigen Schwarz-Weiß-Abbildungen beschwören. Auf jedem Schulflohmarkt werden mittlerweile selbstgegossene Betonblumenvasen und Kerzenständer angeboten. Am anderen Ende der Konsumkultur brachte Comme des Garçons im Frühjahr 2017 das Parfum »Concrete« auf den Markt, abgefüllt in einen Flakon aus Sichtbeton. Schade, dass es nicht »Brut« heißt.

Zum Beton-Hype in der Populärkultur kommt eine Renaissance in der Wissenschaft und in Ausstellungen. Das Projekt »SOS Brutalismus« zielt darauf ab, die Grenze zwischen Öffentlichkeit und Fachdiskurs zu überwinden und die Lücke zwischen diesen zwei Welten mit einer Kampagne zu schließen, die das Momentum aufnimmt und die Energie aus den Filterblasen des Internets dorthin zu lenken versucht, wo Bagger und Abrissbirnen darauf warten, das nächste Betonmonster zu zerstören. Der Brutalismus-Trend birgt allerdings das Risiko, den sperrigen, widerständigen Charakter der ursprünglichen Bewegung aus den Augen zu verlieren, denn nicht jeder Bau aus Sichtbeton ist brutalistisch. Trotzdem ist es auch nicht sinnvoll, den Begriff auf die Diskussionen um Banham und die Smithsons zu reduzieren. Was in London auf den Namen Brutalismus getauft wurde, entstand zum selben Zeitpunkt auch an anderen Orten der Welt oder gab es dort bereits. Die Bundesschule des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes in Bernau bei Berlin, entworfen vom damaligen Bauhaus-Direktor Hannes Meyer und fertiggestellt 1930, ist ein Beispiel für einen Brutalismus avant la lettre. Ein Gebäude, das die Idee des as found ebenso vorwegnimmt wie das Prinzip der sichtbar gemachten Konstruktion: zwei Kriterien, die Banham verwendete, um Brutalismus zu definieren. Bei Meyer mitgearbeitet hat auch Max Bill, der 1950 bis 1955 mit seiner der materiellen Not abgerungenen Hochschule für Gestaltung Ulm ein manifesthaftes Gebäude geschaffen hatte, das im Jahr der Eröffnung bereits von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als brutalistisch bezeichnet wurde. Die HfG entstand zur gleichen Zeit wie die Hunstanton School der Smithsons und könnte ebenso für sich beanspruchen, der Gründungsbau des Brutalismus zu sein. Zudem ist sie ein gutes Beispiel dafür, dass Gestaltungsfragen in einem größeren, politischen Zusammenhang stehen. Sie sollte als Kunsthochschule eine Keimzelle der kommenden, offenen Gesellschaft bilden. Auch Banham und die Smithsons formulierten mit dem New Brutalism eine Haltung des Dagegen: Sie richteten sich gegen die Mutlosigkeit des Wiederaufbaus in Großbritannien.

 

Nation Building und Opposition

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Eine Kirche in Österreich | Wien + Dreifaltigkeitskirche | © DAM / Wolfgang Leeb (2011)

Die Erweiterung der Perspektive birgt allerdings die Gefahr von Unschärfe. Sollte man in Zukunft zwischen israelischem, japanischem oder brasilianischem Brutalismus differenzieren? Muss der US-amerikanische Hochschulbrutalismus vom brutalistisch-metabolistischen Wiederaufbau Skopjes oder dem deutschen Betonkirchenbrutalismus unterschieden werden? Welche Rolle spielten Australiens Betonbollwerke gegen die »Australian Ugliness«? Wofür stehen Großskulpturen aus Afrika und Indien sowie die nicht minder kolossalen Beispiele aus der späten Sowjetunion? Brutalistische Bauten entstanden überall auf der Welt, in allen politischen Systemen, unter jeweils spezifischen Rahmenbedingungen. Lässt sich dadurch auf etwas schließen, das all diesen Richtungen gemeinsam ist? In der Aufzählung der verschiedenen Regionen steckt bereits der Kern einer neuen Definition. Im Unterschied zum International Style war der Brutalismus eher ein Interregional oder New Regional Style: Die Bauten waren für ihre Architekten einerseits der Beleg, auf internationalem Niveau zu arbeiten und standen andererseits mit ihrer ganzen Wucht für den Versuch, eine neue Architektur in den jeweils lokalen Gegebenheiten zu verankern. Der gleichermaßen globale wie stets regionale Brutalismus ist die Architektur des Nation Building. Das ist er aufgrund der Zeitumstände, weil er mit einer Zeit der Entkolonialisierung (Afrika/Asien), des Wiederaufbaus (Europa/Japan) und der rasanten Modernisierung (Nord-/Südamerika/Mittlerer Osten) zusammenfällt. Die japanische Nachkriegsarchitektur beispielsweise ist von der Suche geprägt, einen eigenen Weg jenseits des International Style einzuschlagen. Gleichzeitig entwickelten sich dort neue Bauaufgaben, wie die kommunalen Kulturzentren, um der überkommenen autoritären Zentralisierung entgegenzuwirken. Dabei spielte auch die Materialknappheit eine Rolle, sodass der Sichtbeton auch als stolze Geste der Armut interpretiert werden kann. Von außen betrachtet galt dagegen die japanische Architektur aufgrund ihrer hohen Präzision als »Rich Man’s Brutalism«. Auch in Australien standen Identitätsfragen auf der Agenda, wenn etwa beim Westrail Centre, das für ein neues Selbstbewusstsein Westaustraliens steht, lokale Hölzer und Webarbeiten verwendet wurden. Nicht nur dort, sondern überall suchten Architekten im Furor des Aufbruchs gleichzeitig auch nach Wurzeln, Referenzen, Handwerkstraditionen und populär-vernakulären Bildern.

Selbst wenn man den Brutalismusbegriff sehr weit öffnet, sind die neuen Bauten häufig von einer Oppositionshaltung ihrer Entwerfer bestimmt. Die brasilianischen Architekten João Baptista Vilanova Artigas und Paulo Mendes da Rocha gingen für ihre Überzeugungen ins Gefängnis. Die von ihnen geprägte Escola Paulista, die Schule von São Paulo, entstand in Abgrenzung zur weißen, schwingenden Moderne Rios. Der europäische Kirchenbau der Nachkriegszeit stand nicht selten in Opposition zu den häufig banalen neuen Siedlungen. Der Brutalismus der indischen Architektur setzt den Bauten der Kolonialherrschaft eine gleichermaßen mächtige Geste entgegen. Auch die brutalistischen Bauten Israels opponieren: Sie sind Ausdruck einer neuen, jungen, in Israel aufgewachsenen Generation, die sich von der Weißen Moderne der Emigranten mit grauen, pragmatischen, überbetont soliden Bauten absetzen wollte. Barnabas Calder deutet den britischen Brutalismus als eine Abwehrstrategie gegen die Versuche, durch Normung und Vorfertigung den Wiederaufbau staatlich zu steuern. Die Pointe dieser Beobachtung, die sich auch auf andere Weltregionen anwenden lässt, besteht darin, dass der Brutalismus häufig als Architektur des Wohlfahrtsstaats beschrieben wird. Tatsächlich aber verstanden es viele Entwerfer, die wohlfahrtsstaatlichen Aufträge subversiv zu unterwandern, um baukünstlerisch eigenwillige Werke zu schaffen. Die Oppositionshaltung vieler Brutalisten ist dabei auch durch einen Generationswechsel bestimmt. Die meisten Architekten standen am Anfang ihrer Karriere, als sie die Bauten entwarfen. Nur im Unterschied zu späteren Generationswechseln, die durch schroffe Ablehnung der Vorgänger geprägt sind, ereignet sich am Beginn des Brutalismus in einigen Regionen ein fast magischer Moment der Staffelübergabe.

 

Zwischen heroisch und rhetorisch

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Ein Park in den USA | Seattle + Seattle Freeway Park | © Joe Mabel (2006) + Lizenz: CC BY-SA 3.0 (s. Legende)

Seit Beginn der Arbeit an der Datenbank »SOS Brutalism« tritt täglich die Frage auf, ob ein Bauwerk nun brutalistisch oder bloß ein spätmoderner Sichtbetonbau ist. Es muss »rhetorisch« sein, lautet das neue Kriterium, das über die bereits in den historischen Definitionsversuchen angelegten Prinzipien hinausgeht, die nach der Ablesbarkeit der Konstruktion, der unveredelten Verwendung der Materialien as found sowie der Erinnerbarkeit als »Image« verlangen. Die »Rhetorik« beginnt bei der Hunstanton School der Smithsons, deren Innenausbau aus einem Dauerfeuer von Readymades besteht. Ob Waschbecken, Stromleitungen oder Kleiderhaken, jeder Alltagsgegenstand wird inszeniert. Wenn Paul Rudolph dafür kritisiert wird, dass sein Art & Architecture Building die Architekturstudenten mit seiner übertrieben expressiven Rhetorik verwirren könnte, dann steckt in diesem Vorwurf zugleich die Definition dessen, was den Brutalismus seit 1960 bestimmt. Banham hatte mit Schaudern festgestellt, dass »die Johnsons, die Johansens und die Rudolphs« seinen Brutalismus gekapert hätten, um daraus eine neue, monumentale Architektur zu entwickeln. Sein berühmtes Zitat wird stets für den Moment in Anschlag gebracht, an dem der Brutalismus von der »Ethik« zur »Ästhetik« umkippt. Diese Ästhetik jedoch ist die treibende Kraft. Tausendfach werden in aller Welt die Entwürfe Philip Johnsons, die John M. Johansens und die Paul Rudolphs nicht nur kopiert, sondern bei Weitem übertroffen – wodurch sich ein jeweils eigener, meist regional gerechtfertigter Brutalismus entwickelte.

Ab Mitte der 1960er Jahre entstand auf diese Weise eine neue Form der Autorenschaft, ja der Künstlerarchitektur. Ihr Vorbild ist Le Corbusier. Seine Kurswechsel nach dem Zweiten Weltkrieg haben einer Generation von Architekten die Augen dafür geöffnet, dass die Moderne noch nicht das Ende der Geschichte ist, sondern sprunghafte Entwicklungen jederzeit möglich sind. »Ronchamp« war nicht vorhersehbar, »La Tourette« kam ebenso unerwartet in die Welt. Das Kloster zog eine breite Spur epigonaler Werke nach sich, zu den bekanntesten zählt die Boston City Hall. In diesen heroischen Monumenten steckt zugleich die Sehnsucht nach Tradition. Der dutzendfach kopierte La-Tourette-Typ steht für den Versuch, eine neue Tempelanlage für eine traditionsbedürftige Nachkriegsgesellschaft zu schaffen, sei es in Boston, Bat Yam, Bischkek oder Khartoum. Die übertriebene Rhetorik dieser Bauten geht oftmals einher mit einer Heroisierung der Bauarbeiter, so etwa bei dem berühmten »bush-hammering«, dem Abschlagen feiner Betonlisenen, das zum Markenzeichen Paul Rudolphs wurde. Auch der »béton brut« Le Corbusiers adelte die Spuren der ungelernten Arbeiter zum Gestaltungsmittel. Die grobe Brettschalung wurde auch bei der Architekturschule in São Paulo als Signatur der einfachen Hilfskräfte interpretiert. Aber weit häufiger ging es darum, die handwerkliche Perfektion zu feiern. Nicht nur bei den japanischen Beispielen, die Zimmermannskunst in ein Steckspiel aus Betonbalken zu überführen, sondern überall auf der Welt tritt in den Sichtbetonbauten das handwerkliche Können zum letzten Mal in der Architekturgeschichte an die Oberfläche und erzeugt Betonornamente, bevor dann in den 1970er Jahren die Energiekrise dazu zwingt, die Bauten in Isolationsschichten einzupacken.

Fällt das Ende des Brutalismus also mit dem Niedergang des Wohlfahrtsstaates zusammen und mit dem Beginn des Neoliberalismus, wie einige Autoren vermuten? Oder ist die in vielen brutalistischen Bauten angelegte Sehnsucht nach einem Fortschreiben der Geschichte so mächtig, dass die Postmoderne mit ihrem Versprechen, die Wunden der entfesselten Stadtplanung der Boomjahre zu heilen, sich schließlich durchsetzen kann? Wurde die brutalistische Architektur irgendwann zu teuer, weil die Arbeitskräfte für skulpturale Spezialanfertigungen nicht mehr zu bezahlen waren? Drängte die nächste Generation von Entwerfern auf die internationale Bühne? Gelang es einfach nicht, die Herzen der Leute zu erobern? Der Brutalismus ist längst ein Patient für die Denkmalpflege. Viele Bauten stehen auf der »Roten Liste«, andere sind blau markiert, stehen also unter Denkmalschutz. Die meisten jedoch haben das graue Label bekommen: Sie stehen buchstäblich grau herum, werden genutzt, und es wäre ein Gebot der Vernunft, sie auch in Zukunft zu erhalten. Jeder Umbau ist ressourcenschonender als ein Neubau. Nicht selten ist einfach nur Kreativität gefragt …