Bart Moeyaert in seinem Meer
Quelle: bw.©

Bart Moeyaert über seine Buchmesse

Die Seh(n)sucht teilen

Der nicht so alte Mann und das Mehr

»Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.« Mit diesen Worten von Antoine de Saint-Exupéry im Hinterkopf machte sich der berühmte belgische Kinder- und Jugendbuchautor Bart Moeyaert vor zweieinhalb Jahren auf, als kreativer und künstlerischer Leiter das Bild der Gastländer Flandern und Niederlande auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse zu gestalten. Ein Bild, geprägt »von dem, was wir teilen«. Wir, Flandern, die Niederlande und Deutschland. Wir, die Menschen überhaupt. Vorderhand die gemeinsame Küste und das Meer. Doch zugleich die Sehnsucht noch dem Mehr, dem endlosen Meer der Fantasie und dem gemeinsamen Horizont. Kurz vor der Buchmesse sprach Bart Moeyaert im Museum für Moderne Kunst über seine Vision und über »seine Messe«. Über seine Highlights, über den meerdurchfluteten Gastlandpavillon, die vielgesichtigen Gastlandplakate, den grenzenlosen (nach außen wie nach innen) Reichtum der flämisch/niederländischen Literatur(en), Graphic Novels oder Augmented Realities – bis hin zu einer Liebeserklärung an das Gastlandcafé im Mousonturm. Urban shorts dokumentiert diesen sehr poetischen wie persönlichen Messerundgang mit Bart Moeyaert. Für alle, die sich auf seine Spuren begeben möchten … (red.). 

Barts Buchmesse

Die Seh(n)sucht teilen

Der nicht so alte Mann und das Mehr

Von Bart Moeyaert

»Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.«

Ich wünschte, ich hätte mir diese Weisheit selbst ausgedacht. Antoine de Saint-Exupéry hat das stattdessen für mich getan. Und auch, wenn dieser Mann zeitlebens viel eher in der Luft als auf See zu Hause war, war sein Gedanke für mich wie ein Leuchtturm. Leuchttürme waren für meine Arbeit als künstlerischer Leiter des Gastlandes Flandern und die Niederlande auf der Frankfurter Buchmesse 2016 die Inspiration schlechthin. Über das Holzsammeln und Arbeit-Einteilen habe ich nie nachgedacht. Ich glaube, ich wollte von Anfang an keine andere Sehnsucht in Ihnen wecken als die nach einem gemeinsamen Horizont und dem weiten, endlosen Meer.

Als ich vor mehr als zweieinhalb Jahren anfing, nach einem Motto für unseren Ehrengast-Auftritt zu suchen, ging es mir darum, das Verbindende zwischen Flandern und den Niederlanden auf der einen und Deutschland auf der anderen Seite zu finden. Ihnen ist bekannt, dass Flandern und die Niederlande eine Sprache teilen, eine Geschichte, eine Kultur. Aber Sie wissen auch, dass die Welt groß ist. Helfen Sie mir kurz. Was ist das für ein Wirrwarr: Was hat es auf sich mit Flämisch, Niederländisch und Holländisch?

Meine Suche nach dem, was Flandern, die Niederlande und Deutschland miteinander verbindet, führte mich schließlich zur Nordsee – oder besser: zu jener langen Küstenlinie, die sich von Flandern über die Niederlande bis nach Deutschland erstreckt. So kam ich wie von selbst auf den einfachen und doch einprägsamen Slogan »Dies ist, was wir teilen«, mit dem man uns schon seit März 2016 in Deutschland auftauchen sah. Dieser Slogan macht vor allem eines deutlich: Wir als Gastland gehen lieber von dem aus, was verbindet und nicht von dem, was trennt. Was zwei miteinander teilen, versteht man sofort. Danach kann sich jeder Leser, Besucher oder Außenstehende von selbst aufmachen, die Unterschiede zwischen – in diesem Fall – Flandern und den Niederlanden zu entdecken.

Wir haben ein Gesicht bekommen. Oder besser: Wir haben Gesichter geteilt. Für unser Poster porträtierte der renommierte flämische Fotograf Stephan Vanfleteren einige unserer herausragendsten Autorinnen und Autoren, die jeweils als das Gesicht eines Genres oder einer Generation betrachtet werden können. Diese Porträts wurden auf kunstvolle Weise miteinander »gemerged«, wodurch der Betrachter in einem einzigen Augenaufschlag gleichzeitig von verschiedenen Autorinnen und Autoren angeschaut wird. In diesem einen Gesicht vereinen sich alle gerade genannten Gedanken — das Teilen, das Meer, die Dynamik. Wir sind nicht das Gastland, das Sie bereits 1993 kennengelernt haben. Wir bieten Ihnen mehr als früher. Und noch etwas anderes wird klar: Keinem Genre wird eine Sonderstellung eingeräumt. Romane und Sachbücher, Kinder- und Jugendliteratur, Lyrik, Graphic Novels und Comics grüßen Sie gleichermaßen.

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© Buchmesse

Nach meinem Empfinden liegt das Messegelände im Herzen Frankfurts. Das stimmt natürlich nicht, aber für die ausländischen Buchmessebesucher fühlt sich das wahrscheinlich so an. Mir war es wichtig, als Gastland den Zeigefinger auszustrecken. Vom Messegelände aus verweist man schließlich auf das, was in der Stadt passiert und umgekehrt: Von der Stadt wird auf die Buchmesse verwiesen – beziehungsweise in unserem Fall: auf das Gastland. So zum Beispiel auf unseren Gastlandpavillon. Seine 2300 Quadratmeter stehen ganz im Zeichen des Erlebens: Dem Erleben von Einkehr und Ruhe im scharfen Kontrast zu den belebten Messehallen. Doch neben der Stille, die Sie als Besucher dort erwartet, kann man in unserem Pavillon auch völlig neue aktive Erfahrungen sammeln.

Lassen Sie mich ein paar aufzählen: Die neue Erfahrung und (1) das Plastische. Die Wirklichkeit kann überraschen, in der Literatur ist sehr vieles möglich, aber im Rahmen der »Augmented Reality«, der sogenannten »erweiterten Realität«, geht so ziemlich alles. Ein Zimmer beispielsweise, das nicht wirklich vorhanden ist, existiert scheinbar doch. Die Installation von CREW aus Brüssel wird zum Pavillon im Gastlandpavillon: Eine Evokation des berühmten – 1929 in Barcelona errichteten – Pavelló alemany von Ludwig Mies van der Rohe. Am besten gehen Sie dort gleich einmal hinein und schauen sich um. Sie werden verblüfft sein. Sie werden für eine Weile vergessen, wo Sie sind. Sie werden für eine Weile vergessen, wo Sie sind. Und Sie werden verblüfft sein. Wie war die Reihenfolge nochmal?

Die neue Erfahrung und (2) das Live-Event. Im Mai dieses Jahres hielt Het Atelier erfolgreich auf dem Comic Salon in Erlangen Einzug, und im Oktober können Sie in unserem Gastlandpavillon aus nächster Nähe die Entstehung einer Zeitschrift mitverfolgen. Unter der Leitung der beiden Zeichner-Legenden Joost Swarte und Randall Casaer arbeiten Illustratoren und Graphic Novelists live an einer Ausgabe der Zeitschrift »Parade«. Vom ersten Entwurf zum bis Druckerzeugnis: Nutzen Sie die Chance, wenn sie sich Ihnen bietet und nehmen Sie Ihr eigenes Exemplar (ein einzigartiges Sammlerstück!) mit nach Hause.

Die neue Erfahrung und (3) die Kraft des Wortes. Für das Projekt »Dichter am Meer« hielten sich drei Lyriker (Els Moors aus Flanderen, Erik Lindner aus den Niederlanden und Daniel Falb aus Deutschland) mehrere Wochen an einem für sie fremden Seebad oder Küstenort auf: in Ostende, auf Schiermonnikoog und auf Sylt. Sie traten dort auf und schrieben neue Gedichte, die in einem bibliophilen Lyrikband zusammengefasst wurden und als solche Bestandteil einer poetischen Jukebox sind. Diese Jukebox befindet sich in unserem Gastlandpavillon und enthält neben den Werken aus dem oben genannten Projekt Gedichte zahlreicher weiterer niederländischsprachiger Lyriker, die sich allesamt vom Meer haben inspirieren lassen. Aber aufgepasst: Die Jukebox lebt. Sie flüstert Ihnen das gewünschte Gedicht direkt ins Ohr.

Das Theater unseres Gastlandpavillons wird Sie auf die Vielfalt literarischer Veranstaltungen aufmerksam machen. In dem Stück »21’« beispielsweise erleben Sie eine einzigartige Performance, in der die Literatur für exakt einundzwanzig Minuten auf verschiedene Kunstformen aus Flandern und den Niederlanden trifft. Schriftstellerin Saskia de Coster begegnet dem Sänger Gregory Frateur begegnet dem Kinderbuchautor Sjoerd Kuyper begegnet der Sopranistin Christianne Stotijn begegnet dem beweinten, verstorbenen Illustrator Sieb Posthuma.

Ich sprach gerade von dem ausgestreckten Zeigefinger, der auf etwas verweist, so wie wir von unserem Pavillon aus auf verschiedene interessante Orte innerhalb des Messegeländes verweisen. Was Sie auf keinen Fall verpassen dürfen, ist eine von mehreren Virtual-Reality-Vorstellungen, die wir Ihnen anbieten. Empfehlen. Für notwendig erachten: »The Fernweh Opera« des VR-Künstlers Daniël Ernst und der Dichterin Maud Vanhauwaert. Die müssen Sie gesehen, nein: erlebt haben! Es gibt drei Sitzgelegenheiten in drei verschiedenen Bereichen des Messegeländes. Lassen Sie sich nicht entmutigen: So ein Tag ist lang. Setzen Sie sich, lassen Sie sich verzaubern. Sie dachten, dass es zwischen Literatur, ich meine: Poesie und Musik, ich meine: Oper keine Berührungspunkte gäbe? Dann schauen Sie sich mal die anderen VR-Installationen und –Spiele an.

Nun gut. Wenn du ein Schiff bauen willst, dann lehre die Menschen die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer. In Zusammenarbeit mit verschiedenen flämischen und niederländischen Kulturfonds haben wir größere und kleine Kooperationen mit Museen und Kultureinrichtungen in Frankfurt ins Leben gerufen. Schon vor einigen Wochen behaupteten wir, dass die Nutzfläche Eures imposanten Mousonturmes im Grunde flämisch/niederländisch sei. Damals startete dort nämlich ein buntgemischtes flämisch/niederländisches Performing-Arts-Festival, wodurch der Mousonturm wie von selbst zu unserem Leuchtturm wurde. Das Mousonturmcafé nennen wir großspurig Gastlandcafé, ohne dass es sich dabei allerdings um eine leere Worthülse handeln würde. Denn dort kann man nach einer flämisch/niederländischen Veranstaltung tatsächlich hingehen und etwas kleines Flämisch/Niederländisches essen oder sich ein zünftiges flämisch/niederländisches Bier bestellen. Und während der Buchmesse ist es der Place–to-be, wenn Sie mit unseren Autorinnen und Autoren in Kontakt kommen wollen, genauso wie es der Ort ist, an dem die zehn einzelnen Autorenporträts von Stephan Vanfleteren an der Wand hängen. Die Genres finden zueinander. Und da sind wir wieder bei dem Poster: Dies ist, was wir teilen.

Der Ausspruch de Saint-Exupérys bedeutet mir nach wie vor viel, doch mit der Zeit ist es mir gelungen, ihm auch noch etwas Eigenes hinzuzufügen. Als Team »FBM16 Gastland Flandern und die Niederlande« haben wir ein ziemlich großes Schiff gebaut. Ohne es zu wissen, haben wir sehr viele Menschen zusammengetrommelt. Wir haben eingesehen, dass man die Frage nach der Sehnsucht ohne geeignetes Holz nicht stellen kann und dass man dazu eine ganze Reihe an auf Herz und Nieren geprüften Matrosen zu Wort kommen lassen muss. Ich hoffe, dass Sie zusammen mit dem Publikum der anderen Buchmessebesuchern darüber nachdenken werden, was das, was wir miteinander teilen, eigentlich genau ist. Und ich hoffe, dass sehr viele Menschen sich nach dem weiten, endlosen Meer sehnen werden, das Flandern und die Niederlande miteinander teilen.

Viele Grüße aus
Flandern und den Niederlanden
Ihr Bart Moeyaert

 

Der Text erscheint mit freundlicher Genehmigung von Bart Moeyaert. Die Übersetzung erarbeitete Tabea Michel.