©
Die Ka'aba in Mekka, umtost von Pilgern
Quelle: Al Jazeera English | Lizenz: cc-by-sa-2.0©

Mekka | Fixpunkt der islamischen Welt

»Hier bin ich, oh mein Gott«

Die Hadsch in Geschichte und Gegenwart

Es ist ein Bild, das immer einmal im Jahr um die Welt geht:  ein großer schwarzer Kubus, fast erdrückt von einem Meer weißgewandeter Menschen, die sich zu Zehntausenden Körper an Körper um diesen schwarzen Würfel inmitten des Hofes einer gewaltigen Moschee schlängeln.  [weiter…]

Die islamische Pilgerfahrt

»Labbaika Allahumma - Hier bin ich, oh mein Gott«

Die Hadsch in Geschichte und Gegenwart

Von Volker Stahr

Es ist ein Bild, das jedes Jahr einmal um die Welt geht. Und das beileibe nicht nur Muslime fasziniert. Am eindrucksvollsten ist es am Fernsehbildschirm, wenn die Kamera in der Totalen über das gewaltige offene Geviert der Moschee von Mekka schwenkt. In ihrem Fokus: Ein großer schwarzer Kubus, der aber fast erdrückt wird von einem Meer weißgewandeter Menschen, die sich Körper an Körper zu Zehntausenden um diesen schwarzen Würfel inmitten des Hofes schlängeln. Was die Kameras nicht zeigen, was man höchstens erahnen kann angesichts dieser Massen im Geviert des Hofes, ist das Gemurmel der Menschen. Ein Gemurmel, das immer wieder in einem Satz mündet: »Labbaika Allahumma – Hier bin ich, oh mein Gott« …

»Labbaika Allahumma – Hier bin ich, oh mein Gott« – Mit diesem Bekenntnis versammeln sich alljährlich zum Ende des islamischen Kalenderjahres rund zwei Millionen Muslime in Mekka und machen das ruhige und fast verschlafene Wüstenstädtchen im Westen der arabischen Halbinsel für wenige Tage zum pulsierenden Mittelpunkt der islamischen Welt. Aus allen Teilen der Erde strömen sie herbei, um ihrer heiligen Pflicht der »Hadsch« nachzukommen. Sie ist neben dem Glaubensbekenntnis »Schahada«, dem fünfmaligen täglichen Gebet »Salat«, dem jährlichen Fasten »Saum« (im Monat »Ramadan«) und der Almosengabe »Zakat« eine von fünf »Säulen« des Islam und dem gläubigen Muslim zumindest einmal im Leben dringend angeraten. Politisch ist die Hadsch in der Krisenregion Nahost immer wieder heikel. Im letzten Jahr 2016 etwa fiel sie erstmals mit dem »11. September« zusammen, da das islamische Jahr elf Tage kürzer ist als das universelle christliche Jahr und insofern durch dieses universelle Jahr »wandert«. In diesem Jahr belastet der Streit zwischen Saudi-Arabien und Katar sowie indirekt auch dem Iran die Pilgerfahrt. 

Strenges Ritual rund um einen heiligen Stein

800px-kaaba_-mecca_-saudi_arabia-1aug2008
Die Ka’aba, einmal nicht umtost von Pilgern | (c) deendotsg | Lizenz: cc-by-sa-2.0

Seit den Anfängen des Islam im 7. christlichen Jahrhundert bereits gehört die Wallfahrt nach Mekka zu den festen Ritualen der Muslime. Doch wie auch die vier anderen Säulen ist die Hadsch keine islamische Erfindung. Schon vor dem Propheten Muhammad pilgerten die Menschen auf der arabische Halbinsel zur Ka’ba, jenem kubusförmigen Bau im Herzen Mekkas, dessen Außenwände seit islamischer Zeit eine mit Koranversen bestickte schwarze Brokatdecke verhüllt. Ihr Ursprung ist ungewiss. Nach islamischer Vorstellung soll sie von Abraham, dem Stammvater von Muslimen, Juden und Christen, für Allah errichtet worden sein. Sicher ist lediglich, dass sie schon lange vor dem Islam Reliquien für eine Vielzahl von Göttern barg; darunter auch jenen sagenumwobenen Stein, der heute in der Außenwand eingemauert ist. Bei ihm handelt sich wohl um einen Millionen Jahre alten Meteoriten. Ihn zu berühren oder gar zu küssen gilt den Pilgern seit alters her als höchstes Gut, als Ziel aller ihrer Mühen.

Muhammad übernahm diese Tradition, reinigte die Ka’ba aber von den Bildern anderer Götter und machte sie zum Mittelpunkt der islamischen Welt. Im Koran steht, dass jeder Muslim den Ort mindestens einmal im Leben besuchen muss, »soweit er dazu eine Möglichkeit findet« (Sure 3, Vers 97). Und Muhammad selbst hat festgelegt, wann er dies zu tun habe: zwischen dem 8. und 13. Tag des Monats »Dhu’l-Hidscha« (übersetzt: »derjenige der Wallfahrt«). Da der islamische Kalender allerdings im Gegensatz zu dem im Abendland gebräuchlichen und auf dem Sonnenjahr beruhenden Gregorianischen Kalender (benannt nach dem christlichen Papst Gregor XIII.) auf dem elf Tage kürzeren Mondjahr berechnet wird, »wandert« die Hadsch alljährlich etwas weiter nach vorne durch die abendländische Zeit. In diesem Jahr, dem 1438. der islamischen Zeitrechnung, fällt der 8. Dhu’l-Hidscha auf den 30. August. Immerhin umgeht man mit dem Ende der Pilgerfahrt am 4. September das heikle Datum »9/11«, das 2016 mitten in der Hadsch lag.

Kurz vor dem festgelegten Tage treffen sich die Pilger in Mekka; jener Stadt also, die nur Muslime betreten dürfen. Schon vor der Stadt versetzen sie sich in einen »Ihram« geheißenen Zustand der Weihe den sie durch das Anlegen zweier weißer Tücher (die ebenfalls »Ihram« genannt werden) erreichen, und legen das Bekenntnis zur Vollziehung der Hadsch ab. Von nun an dürfen sie sich weder rasieren noch kämmen, sich weder Haare noch Nägel schneiden. Auch sind ihnen Streit, Jagd, Geschlechtsverkehr und der Gebrauch von Parfüm untersagt. In Mekka angekommen, vollzieht der Pilger zuerst die »‘Umra«, die kleine Wallfahrt. Sie ist Teil der Hadsch, kann aber auch zu jeder anderen Jahreszeit geleistet werden. Hierzu muss der Pilger sieben Mal die Ka’ba links herum umrunden und ebenso oft den Weg zwischen den beiden Erhebungen Safa und Marwa zurücklegen. Beide Felsen sind heute übrigens durch eine überdachte Galerie »pilgerfreundlich« miteinander verbunden.

Am Vorabend des 8. Dhu’l-Hidscha beginnt das eigentliche und stets gleiche Zeremoniell der Hadsch mit dem gemeinsamen Anhören der Predigt. Tags darauf ziehen die Pilger in ihrem gewaltigen Tross vom nahen Dörfchen Mina aus in die 25 Kilometer östlich der Stadt gelegene Arafat-Ebene, wo es ihnen vorgeschrieben ist, am 9. Dhu’l-Hidscha bis zum Abend zu verweilen. Nach Sonnenuntergang (in islamischer Vorstellung der Beginn des neuen Tages) geht es im Laufschritt über eine kurze Rast in Muzdalifa wieder nach Mina. Dort wirft jeder Pilger sieben kleine Steinchen auf eine bestimmte Stelle – als Symbol für die Steinigung des Satans (der Ritus wird in den folgenden Tagen an anderen Stellen wiederholt). Es folgt das Opferfest in Gedenken an das Opfer Abrahams. Dann kehrt man nach Mekka zurück, umrundet erneut die Ka’ba, bevor man die letzten drei Tage mit Feiern wieder in Mina verbringt – nun rasiert und in Festkleidung.

Große Bedeutung für Islam, Muslime und Saudis

Im Wesentlichen besteht eine solche Pilgerfahrt also aus Verweilen, Laufen (wobei heute manche Distanzen bereits mit Bussen und Autos zurückgelegt werden) und einigen fest vorgeschriebenen Ritualen. Auf den ersten Blick scheinen das viele rational kaum nachvollziehbare Handlungen. Für Muhammad aber machten sie Sinn: als Bündeln vorislamischer und den Arabern vertrauter Traditionen, die er nicht aufgeben wollte und deshalb in die neue Religion aufnahm. Allerdings ist deshalb die Deutung vieler Rituale heute nicht eindeutig. Für islamische Theologen dienen sie der Abkehr der irdischen Welt und der völligen »Ergebung« (so auch die Bedeutung des Wortes »Islam«) in Gott, die sich gerade im Vollzug irrationaler Verhaltensweisen ausdrücke. Für viele Gläubige, die sich hernach »Hadschi« nennen, verheißen sie auch Ablass der Sünden. Für die Gemeinschaft aber ist die Hadsch Symbol der Größe Allahs und des Islam, vereinigt sie doch zwei Millionen Menschen aus allen Kontinenten, fast allen Staaten, jeder Hautfarbe, jeder Rasse und beiderlei Geschlechts. Zwei Millionen von weit über einer Milliarde weltweit …

Höchst politische Bedeutung hat die Hadsch für Saudi-Arabien, das seit 1925 über Mekka und Medina herrscht und dessen König sich »Khadim al-Haramain« / »Diener der beiden heiligen Stätten« nennt. Damit will er seine Führungsrolle in der islamischen und der arabischen Welt untermauern. Wie fragil diese Rolle ist, zeigte die Besetzung der Ka’ba durch radikale Glaubenskrieger im Jahre 1979. Saudi-Arabien besitzt zwar Erdöl und Dollars, sonst aber nur viel Wüste, wenig Menschen und eine schwache Armee. Zudem fehlt der Familie Al Saud, die erst seit einigen Jahrzehnten dort herrscht, ein traditioneller Führungsanspruch. Die großen Kalifen der islamischen Welt saßen in Damaskus, Bagdad, Kairo und Istanbul – nie aber in Riad. Auch bedeutende politische Führer wie etwa einst den großen Ägypter Nasser hatte Riad nie.

So versucht das Wüstenkönigreich, das ansonsten überall auf der Welt mit seinen Petrodollars islamische Bewegungen finanziert, wenigstens als Hüter der beiden heiligen Orte seine Legitimation als Führungsmacht zu untermauern. Deswegen auch lässt es sich die Ausrichtung der Hadsch einiges kosten – die genaue Höhe der Ausgaben ist allerdings ein streng gehütetes Staatsgeheimnis – und betreibt großen Aufwand zu einem reibungslosen Verlauf der Hadsch. Dies wiederum ist keineswegs eine leichte Aufgabe, ist doch die Pilgerzahl seit Aufkommen der modernen Massenverkehrsmittel drastisch gestiegen. Kamen im Jahre 1873 noch 150.000 Pilger, so zählte man diese Zahl vor einigen Jahren bereits allein aus dem Iran. 1973 registrierten die Behörden 1.122.545 Wallfahrer. Ende des 20. Jahrhunderts waren es einige Male bereits über zwei Millionen Muslime, die sich in Mekka einfanden. Der Mehrzahl der Pilger kommt übrigens längst nicht mehr von der Halbinsel.

Risiken und Profiteure

All diese Menschen müssen untergebracht und verpflegt werden. Einen Riesenaufwand erfordert allein das Millionenzeltlager in der Arafat-Ebene. Und für das Opferfest müssen Zehntausende von Schafen importiert werden. Gewaltige Vorkehrungen müssen zudem für die Überwachung der Hygienevorschriften getroffen werden. Seuchen nämlich sind nach Unruhen und neuerdings Terroranschlägen die größte Sorge der Organisatoren. In dieser Hinsicht haben die Saudis in den letzten Jahren allerdings auch Beachtliches geleistet: Mobile Hospitäler und unzählige kleinere Behandlungszentren wurden errichtet. Was einst sogar eine Einnahmequelle für Mekka war, ist heute wohl für Riad ein gigantisches Zuschussgeschäft.

Und es ist ein Risikofaktor, wie nicht nur die Ka’ba-Besetzung 1979, sondern auch zahlreiche, oft blutige Ausschreitungen in den vergangenen Jahren zeigten. 1987 kamen bei vermutlich von Iranern angezettelten Unruhen über 400 Menschen ums Leben. 1990 starben bei einer Massenpanik gar 1.500 Menschen an einem Tage, im Jahr 2015 waren es wohl 2300, davon wohl 464 allein aus dem Iran. Eines nämlich scheint trotz sorgfältiger und generalstabsmäßiger Planung unmöglich: wirkungsvolle Sicherheitsvorkehrungen gegen die in wenigen Tagen wie Heuschreckenschwärme ins Land kommenden Menschenmassen zu treffen. Dagegen haben die Behörden nur ein, wenn auch in der islamischen Welt umstrittenes Mittel. Seit 1988 gibt es Länderkontingente: pro eintausend Einwohner wird nur noch ein Pilger zugelassen. Den größten Streit gab es prompt mit dem Iran, der mehr Pilger nach Mekka schicken wollte; wohl wissend um die Probleme, die er dem Konkurrenten im Kampf um die islamische Führung damit bereitete. Anfangs gab es gar einen Machtkampf: Iran wollte die »Quote« nicht akzeptieren und boykottierte die Hadsch. Lange Zeit hatte man sich dann geeinigt und sah in Saudi-Arabien großzügig über eine etwas überzogene Quote hinweg. Doch die vielen, vor allem iranischen Toten 2015 haben den Streit neu entfacht und zum umstrittenen Ausschluss der Iraner für 2016 geführt. In diesem Jahr sind sie wieder zugelassen – wie auch Pilger aus Katar trotz des Streits einreisen dürfen.

Ihre ganz eigene Bedeutung hat die Hadsch übrigens für Mekka selbst. Das Wüstenstädtchen am Rande der Arabischen Halbinsel hat der kleine schwarze Stein in seiner Mitten zu einem wohlhabenden Wirtschaftszentrum gemacht. Über Jahrhunderte hinweg hatten die Mekkaner von den Wallfahrten profitiert, war es doch üblich, bei solchen Gelegenheiten Märkte abzuhalten und Handel zu treiben. Eine gute Einnahmequelle waren auch die Pilger selbst. Sie brauchten Unterkünfte und Nahrungsmittel und wurden zudem oft noch mit den verschiedensten Zöllen belegt. Ganze Berufszweige wurden kreiert: der Ka’ba-Wächter Schaiba oder der Mutawwif, der die Pilger in die komplizierten Riten der Hadsch einführte. Über ein Jahrtausend hinweg hatten zudem die islamischen Oberherren in Damaskus, Bagdad, Kairo oder Istanbul den Herren von Mekka und den Führern der entlang der Pilgerrouten lebenden Beduinen umfangreiche Subsidien gezahlt, um eine störungsfreie Hadsch sicherzustellen. Schließlich hing ihr Prestige von einer friedlichen Hadsch ab. Dieser Brauch endete erst mit den Saudis, die daraus direkte Zuschüsse für die Stadt machten. Wen wundert es da, dass Muhammad ein Sohn Mekkas und auch noch ein Kaufmann war …