Kassel | Documenta-Splitter

Ist Kunst denn nützlich?

Kunst und Wirklichkeit auf der Documenta 14

 

Ist Kunst nützlich? Die Frage, ob seine Documenta 14 elitär sei, bejaht der künstlerische Leiter Adam Szymczyk aus Polen, da man ansonsten die Kultur ja auch gleich ganz abschaffen und nur noch Nützliches herstellen könne. Und danach vielleicht in die Ferien nach Griechenland fahren. Szymczyk macht es anders: Er holt erst mal die Kunst aus Griechenland in die hessische Provinz. Mit Themen, die alle angehen: vor allem Demokratie und Flüchtlinge. Und schuf damit eine Documenta, in der Kunst und Wirklichkeit immer wieder aufeinandertreffen – und zuweilen gar nicht voneinander zu unterscheiden sind.

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Studenten aus Kassel haben die Röhren des »One Room Apartments« mit Gebrauchsgegenständen wie Lampen und Bettdecken gefüllt und in der Zeit der Documenta bewohnt. Von ihnen erfährt man, was es mit diesen Röhren auf sich hat, auch wenn sie im Gespräch mit Besuchern vergessen, den Künstler zu erwähnen, der hinter diesen Röhren steckt. Der inzwischen mehrfach preisgekrönte Hiwa K. (42) ist schon vor Jahren aus dem Irak geflohen und lebt inzwischen in Berlin. Er zeigt die Röhren, da Geflüchtete darin oft leben (müssen). Hiwa K. wollte auf das Schicksal der Migranten aufmerksam machen, indem die Rohre ursprünglich an Touristen vermietet werden sollten. Doch das haben die Behörden nicht erlaubt. War ihnen wohl zu viel Wirklichkeit. Ob die Botschaft auch ankommt mit den Studenten, die flink von einer Röhre zur anderen klettern, ist allerdings nicht immer ganz klar.

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Das Werk, das zum Symbol für die Documenta 14 geworden ist, ist der »Parthenon der Bücher«. Trotz der Anspielung auf das Ursprungsland der Demokratie steckt hinter der riesigen Installation keine Griechin. Die 73-Jährige Marta Minujin kommt aus Argentinien. Aber sie hat es geschafft, dass sowohl Schüler als auch Rentner interessiert um die Säulen laufen und über »verbotene Bücher« diskutieren. Und der Parthenon ist noch lange nicht voll. Studenten packen noch immer irgendwo auf der Welt von den Nazis, in den USA oder in der DDR verbotene Bücher in Plastik und befestigen sie auf dem Metallgerüst. Einige Werke sind schon doppelt vertreten oder wie »Der kleine Prinz« gleich in mehreren Sprachen. Da gibt es »Mickey-Maus«-Hefte und Sigmund Freud, die Pflichtlektüre vieler Schüler »Der Fänger im Roggen«, aber auch Romane der »Twilight«-Serie, die wohl einige Regierenden zu erotisch fanden. Und natürlich die Bücher, die die Nationalsozialisten in Deutschland verboten hatten – wie die Romane von Irmgard Keun.

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Zu den eindrucksvollsten Kunstwerken zählen die Arbeiten der beiden samischen Künstlerinnen Britta Marakatt-Labba und Máret Ánne Sara. Erstere erzählt in einem eindrucksvollen gestickten Fries Geschichte und Alltagsleben der Minderheit der Sami. Letztere stellt in Form eines Vorhangs viele kleine Rentierschädel mit Einschusslöchern aus (von hinten sind die Zähne der Tiere noch zu sehen) – und protestiert mit ihrer Kunst gegen die Entscheidung der Regierung in Oslo, die Rentierherden zu verkleinern. Sara gehört selbst zu den Sami, die von der Rentierzucht leben. Indigene Kunst ist ein Schwerpunkt der Documenta 14. In der Neuen Neuen Galerie, in der die Rentierschädel zu sehen sind, trifft die Kunst auf die wirkliche Wirklichkeit, denn einige Stockwerke des eigentlich stillgelegten Gebäudes werden wieder genutzt. Hinter dem Schild »Hier keine Kunst« arbeiten Angestellte der »Regionalstelle Nord für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge«.

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Schon der Weg zur Neuen Neuen Galerie führt – wie die Frau hinter der Café-Theke im Presse- und Informationszentrum erklärt – »an vielen Kebab-Läden vorbei«. Szymczyk wollte bewusst nicht nur in der Innenstadt ausstellen. In Kassel gibt es im Bahnhof noch Woolworth und sogar am Friedrichsplatz einen Erotikshop und »Running Mode für größere Größen«. Manchmal ist es ganz schön schwierig, die Ausstellungsorte zu finden. Das Presse- und Informationszentrum (übrigens nicht nur für die Presse, aber dennoch erstaunlich leer; wohl, weil es keiner findet) liegt versteckt hinter vielen Polizeiautos in einem 2015 dichtgemachten Taschenladen. Eine andere Filiale dieses Kasseler Traditionsunternehmens gibt es noch: in der Straße mit den Kebab-Läden, kurz hinter dem riesigen Obelisken am Königsplatz. »Ich war ein Fremdling und ihr habt mich beherbergt«, prangt dort in goldenen Lettern auf dunklem Marmor. Der Satz stammt aus dem Matthäus-Evangelium, der Obelisk von dem US-Künstler mit nigerianischen Wurzeln, Olu Oguibe. Im Namen der Flüchtlinge steht es mitten in Kassel – und auf Deutsch, Türkisch, Englisch und Arabisch darauf ein Dank dafür, dass sie in Deutschland aufgenommen wurden … Kunst und Wirklichkeit treffen einander … (lys.).