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Filmtitel
Quelle: scs©

Frankfurt | Deutsch-türkische Schicksale

Tokat – drei nicht gelebte Leben

Lehrreiche Beispiele gescheiterter Integrationsversuche

Ihr Gangs trugen Namen wie »Turkish Powerboys«, »Griesheim Tigers« oder »Ahorn Boys«. In diesen Gangs schlossen sich in den 90er Jahren in Frankfurt türkische Jugendliche zusammen, rund 500 sollen es insgesamt gewesen sein. Türkische Jugendliche, deren Alltag damals aus Dealen, kleinen Diebstählen, Körperverletzungen und später auch richtig organisierter Kriminalität bestand, aus Drogensucht und Heimatlosigkeit – dem ganzen Programm von gescheiterter Integration und perspektivlosen Jugendlichen. [weiter…]

Essay | Stefan Röttele (pia.)

Tokat - Türkische Ohrfeige

Ffm. | Film über drei nichtgelebte Leben

Zwei Frankfurter Filmemacherinnen haben das Schicksal von drei türkischstämmigen Männern aufgezeichnet und gehen dabei zurück in die 90er Jahre der Stadt. »Tokat – Das Leben schlägt zurück«, ein Film wie alles begann, wo die Männer heute stehen – eine Dokumentation über verlorene Leben.

 

Dieses Wiedersehen ist mehr als ungewöhnlich. »Der ist echt okay, der Richter«, sagt Kerem. »Der war immer fair mit uns.« Der Richter heißt Jürgen Fröhlich, war früher am Frankfurter Amtsgericht für Jugenddelikte zuständig. Er ist ebenfalls zufrieden. »Ich fühle mich bestätigt, weil ich schon damals fast sicher war, dass diese Jungs irgendwann die Kurve kriegen.« Kerem hat Fröhlich vor Tagen zufällig auf der Frankfurter Zeil getroffen und ihn eingeladen, seine Geschichte noch einmal aus der heutigen Perspektive zu sehen.

Angst und Schrecken verbreiten

Kerem, etwa Anfang 40, ist einer von drei Hauptfiguren im neuen Dokumentarfilm »Tokat«, türkisch für »Backpfeife«, »Ohrfeige«. Die beiden Autorinnen Andrea Stevens und Cornelia Schendel porträtieren darin drei türkischstämmige Männer, die sich in den 90er-Jahren in Frankfurt kriminellen Jugendbanden anschlossen. Rund 500 Jugendliche sollen es gewesen sein, die sich Gangs mit Namen wie »Turkish Powerboys«, »Griesheim Tigers« oder »Ahorn Boys« anschlossen. Sie prügelten sich untereinander, raubten anderen Jugendlichen die Jacken. Einige drifteten später ab in die organisierte Kriminalität, dealten mit Heroin und wurden selbst süchtig.

Die Filmemacherinnen, die selbst in jener Zeit in Frankfurt aufwuchsen, erinnern sich gut an die Angst und den Schrecken, den diese Gangs verbreiteten. Doch der Film arbeitet weniger deren Geschichte auf oder analysiert sie. Altes Filmmaterial vom Drogenstrich in der Taunusanlage, Polizeieinsätzen auf der Konstablerwache oder den Hotspots des Bahnhofsviertels ist kaum zu sehen. Auch die Seite der Opfer wird nicht beleuchtet. Eine bewusste Entscheidung der beiden Filmemacherinnen: »Wir wollten die Biographien dieser drei Männer erzählen und über sie die damalige Zeit und das Phänomen der Jugendbanden in Frankfurt erlebbar machen. Es geht uns dabei nicht um eine Täter-Opfergegenüberstellung«, erklärt Cornelia Schendel.

Geld für die Sucht

Die Filmemacherinnen zeigen stattdessen drei Männer, wie sie von heute aus auf sich selbst in jenen Jahren zurückblicken. Sie begleiten sie mit der Kamera zuhause, bei der Arbeit, bei einem der wenigen Wiedersehen in der Türkei. Auf der Leinwand erzählt Kerem davon, wie er als harter Junge früher einem Menschen einfach ein Messer durchs Gesicht zog, als der ihn darauf hinwies, dass man bei der Frage nach einem Feuerzeug »bitte« sagen könne. Um die Sucht zu befriedigen, brauchten sie Geld. Also dealten sie. »Manchmal waren wir über Monate nicht zu Hause. Immer dealen, ziehen, dealen, ziehen.«

Dönmez machte mit 17 Jahren die Erfahrung, von der Polizei nachts nach Hause gebracht zu werden, nachdem er bei einem Jackendiebstahl erwischt worden war. Der Vater antwortete den Beamten, dass dies nicht sein Sohn sei und sie sich in der Adresse geirrt haben müssten. Hakan leidet, wenn er ein ums andere Mal wiederholt: »Es ist alles meine Schuld.« Der heute von Krankheit gezeichnete Kerem wirkt glaubwürdig, wenn er einer Krankenschwester sagt: »Keine Angst, ich nehme keine Drogen mehr. Die Zeiten von Halligalli und Coolsein sind vorbei.«

Glück auf der Straße suchen

Es ist auch ein Rückblick auf eine gescheiterte Integrationsgeschichte in den frühen 90er Jahren. Jugendrichter Fröhlich glaubt, dass die Söhne der zweiten Generation eingewanderter Türken oft nicht genug Aufmerksamkeit fanden. »Die Eltern standen unter Druck, sich eine Existenz aufzubauen und schufteten hart für den Lebensunterhalt. Zugleich waren die Söhne noch nicht so gut in die deutsche Gesellschaft integriert, dass sie es allein hätten schaffen können. Also suchten sie ihr Glück auf der Straße.«

Die Filmemacherinnen Schendel und Stevens haben noch ein zweites interessantes Detail ermittelt. Die drei Männer im Film stammen ursprünglich alle aus demselben kleinen 400-Einwohner-Dorf Bayat in Ostanatolien. Gemeinsame Wurzeln könnten die bandenartigen Zusammenschlüsse also ebenfalls begünstigt haben. Kerem selbst sagt: »Wir waren alle aus dem gleichen Ort. Also haben wir zusammengehalten. Wir waren viele, immer so 15 bis 20, manchmal auch mehr. Die anderen hatten Angst vor uns.«

Lange Schatten

Das Leben von Kerem, Hakan und Dönmez ist bist heute von dieser Phase schwer gezeichnet. Kerem, der seinen Bruder bei einer Messerstecherei verlor und vor lauter Wut auf offener Straße einen wildfremden Menschen tötete, ist heute Frührentner und schwer krank. Er fürchtet nach wie vor, dass die Vergangenheit ihn einholt.

Hakan, der erst mit 16 Jahren nach Frankfurt kam, wurde aus Deutschland abgeschoben. Er lebt wieder in Bayat, dem kleinen Dorf nahe der armenischen Grenze in einer ärmlichen Behausung. Einer regulären Arbeit kann er nicht nachgehen, weil er staatenlos ist. Seinen Lebensunterhalt verdient er mit gelegentlicher Feldarbeit und Almosen. Er vermisst Frankfurt und seine Familie, die nach wie vor dort lebt.

Dönmez, der ebenfalls in die Türkei abgeschoben wurde, arbeitet in der türkischen Mittelstadt Iğdir in einer Saftfabrik. Er wünscht sich nichts sehnlicher, als zurückkehren zu können in die Stadt, in der er geboren wurde, wo seine Brüder wohnen. Mit Google Streetview schreitet er am PC die alten Wirkungsstätten ab. Frankfurt, das ist immer noch seine Stadt.

Die Angst einflößenden Täter von einst sind alt geworden. Ihre kriminelle Vergangenheit haben sie zurückgelassen. Sie bedauern, was sie getan haben und würden es gerne ungeschehen machen. Doch die Schatten jener Jahre sind lang. Eine zweite Chance auf ein gelungenes Leben gibt es nicht. »Wir haben alles als Party gesehen. Aber das Leben ist nicht nur Party«, sagt Kerem.

Jugendlichen von heute gibt er den Rat, anständig zu bleiben und auf den Vater zu hören. Weil alle drei trotz der Ausweglosigkeit ihren Humor nicht verloren haben, kommt man als Kinozuschauer nicht umhin, auch zu schmunzeln. Doch Kerem, der als einziger nicht abgeschoben wurde und der auch als einziger zur Premiere im Februar in Frankfurt kommen konnte, warnt vor Verharmlosung. »Die Jugendlichen heute sind zum Teil noch viel schlimmer drauf.«

Abschiebung als Kapitulation

Der Soziologe Hermann Tertilt hat 1996 zu dem Phänomen eine umfangreiche Studie vorgelegt. Dafür gewann er das Vertrauen der »Turkish Power Boys« und begleitete sie über zwei Jahre hinweg. Tertilt beschreibt in »Turkish Powerboys, Ethnographie einer Jugendbande«, wie sich in der Gruppe Hierarchien etablierten und wie der zunächst allgemein verachtete Drogenkonsum mit der Zeit konsensfähig wurde.

Wie die Filmemacherinnen porträtiert auch Tertilt drei Mitglieder ausführlich. Bei den Motiven dominierten nach seiner Einschätzung weniger die persönliche Bereicherung als vielmehr das Abenteuer, das Streben nach Geltung und die Demonstration von Männlichkeit und Macht. Der Wunsch, gerade deutsche Jugendliche mit dem Jackenraub zu demütigen, sei auch der Erfahrung eigener Zurückweisung in Schule und Gesellschaft geschuldet gewesen.

Bis Kerem 20 Jahre alt war, hieß der für ihn zuständige Richter Jürgen Fröhlich. Mit seinen Urteilen nahm er Einfluss auf die Hauptdarsteller der Dokumentation. »Diese Jungs, die öfter zu einem kamen, natürlich kennt man die irgendwann.« Das Schicksal der Abgeschobenen empfindet er als tragisch, ein Stück weit aber auch als Kapitulation Deutschlands vor den eigenen Pflichten. »Jemanden, der hier geboren ist, kann man doch nicht einfach abschieben«, sagt er. »Diese Probleme muss man doch hier lösen.« Die Banden jener Jahre habe er als Richter tatsächlich als eigenes Phänomen wahrgenommen. »Das hat es früher oder später in Frankfurt so nicht mehr gegeben.«

Jugendgangs zeitig erkennen

»Seitdem ist die Einsicht gewachsen, solchen Entwicklungen entgegenzuwirken, lange bevor sie die Gerichte beschäftigen«, sagt Armin von Ungern-Sternberg, Leiter des Amtes für multikulturelle Angelegenheiten, kurz AmkA. Seit mehr als 25 Jahren arbeitet das AmkA an der Förderung eines konfliktarmen Zusammenlebens in der Stadt, an Chancengleichheit gerade auch für junge Migranten, an der Schaffung von Zugängen zu gesellschaftlicher Teilhabe für die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen und am Abbau von Diskriminierung.

Heute könnte die Stadt Frankfurt auf Jugendgangs, wie im Film beschrieben, strukturiert reagieren: »Ziel wäre dabei, die Gesamtsituation aus unterschiedlichen Perspektiven zu verstehen, das individuelle Lebensgefühl der jungen Zuwanderer ernst zu nehmen und dadurch die Chance zu haben, sie vor einem kriminellen Werdegang zu bewahren«, sagt von Ungern-Sternberg.