©
Nicht nur in Brüssel: Die neuen Dos and Don'ts der Innenstädte von London bis Leipzig
Quelle: us©

Blaupause | Innenstädte

Stadtverkehr wie in Brüssel

Die ganze Stadt als Tempo-20-Zone?

Frankfurt führt in Teilen der Innenstadt Tempo 20 ein. Es folgt damit einem Trend: Weltweit beginnen immer mehr Städte, zumindest Tempo 30 flächendeckend auf ihren Straßen einzuführen. In Deutschland hat die Initiative »Lebenswerte Städte« gerade die 1000. Kommune aufgenommen. Ihre Ziele: bessere Luft, weniger Lärm und mehr Lebensqualität …

In Europas Metropole Brüssel trauten im Sommer 2020 viele Menschen ihren Augen nicht – und sich selbst erst einmal längere Zeit auch nicht auf die Straßen im Herzen der Stadt. Mitten in der Hochzeit von Corona hatte die Stadtregierung das Zentrum zur verkehrsberuhigten Zone erklärt, in der auch die verbliebenen Autos nur Tempo 20 fahren durften. Und nicht nur das: Radfahrer*innen und Fußgänger*innen hatten auf rund fünf Quadratkilometern rund um den Grande Place mit seinen alten Gildehäusern Vorrang. Die Straße gehörte zuerst einmal ihnen – vor allem, um mehr Platz für Abstand zu haben. Es dauerte ein wenig, bis auch die Autofahrer*innen »mitspielten«. Der ausgedünnte Verkehr half mit, dies da und dort tatsächlich umzusetzen. Nun war Brüssel wahrlich nicht die einzige Großstadt, die im Sommer 2020 verkehrsberuhigt wurde – teils »von oben«, teils einfach durch Corona. Aber die Brüsseler Stadtregierung fand Gefallen daran. Die EU-Hauptstadt – bisher Eldorado für Autofahrer*innen – beschloss 2021, im ganzen Stadtgebiet Tempo 30 einzuführen; ausgenommen nur Straßen, an denen ausdrücklich anderes beschildert ist. Hintergrund war nun nicht mehr die Abstandswahrung, sondern auch die schlechte Luft in der Metropole. Das mit der Luft wurde Brüssel übrigens kurioserweise quasi von Brüssel ins Pflichtenheft geschrieben. Nämlich von der EU-Kommission um die Ecke …

Mittlerweile sind Tempo-30-Innenstädte Trend – längst fast schon flächendeckend in Großstädten wie Paris oder London. Brüssel hat mit seinen strengen Regeln in Sachen Luft zahlreiche Metropolen angestoßen, gibt es doch kaum noch eine europäische Großstadt, in welcher Jahrzehnte des Credos »autogerechter Stadt« Luft und Lebensqualitäten nicht deutlich in Mitleidenschaft gezogen haben. Auch in Deutschland folgen immer mehr Städte diesem Trend – und dieser Notwendigkeit. Tempo 30 als Regel ist zwar hierzulande noch die Ausnahme. Doch das liegt am Gesetz, das (noch) enge Grenzen für ein flächendeckendes Abweichen von Tempo 50 setzt. Doch die Stimmung wandelt sich. Und zwar über fast alle Parteien hinweg. Freiburg war 2021 die erste Stadt, die einen Vorstoß beim Bundesverkehrsministerium unternommen hatte. Noch im gleichen Jahr gründeten sieben Städte um Freiburg und Leipzig herum die Initiative »Lebenswerte Städte«. Ihr Wunsch: Tempo 30 als Regel, 50 könne dann als Ausnahme verfügt werden. Was in der Realität vieler Städte zur Folge hätte, dass die Ausnahme auch wirklich wieder als solche empfunden würde. Auch die Initiator*innen argumentieren mit Luft und Lärm. Aber auch einfach damit, dass die Menschen in den Städten sich wieder freier und unbesorgter bewegen könnten in »ihren« Straßen. Sie verweisen gerne darauf, dass das Credo der »autogerechten Stadt« aus den 60er Jahren stammt, als nur ein Viertel der Haushalte ein Auto besaß. Heute haben mehr als drei Viertel aller Haushalte mindestens ein Auto – und Straßen und Straßenränder sind voll davon. Gerne wird zudem auf Helsinki verwiesen, wo 2019 flächendeckend Tempo 30 eingeführt wurde – und bereits im selben Jahr erstmals kein*e Fußgänger*in oder Radfahrer*in mehr bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Die Initiative »Lebenswerte Städte«, die sich explizit dem Ziel Tempo 30 verschrieben hat, hat in diesen Tagen gerade ihre 1000. Kommune bundesweit aufgenommen – längst über alle Parteigrenzen hinweg …

Schon im jetzigen Rahmen weiten diese Städte und Gemeinden Tempo-30-Zonen überall massiv aus; etwa in Mainz, in Aschaffenburg oder lange Zeit auch in Berlin, wo angeblich zuletzt auf acht von zehn Straßen die 30 vorgeschrieben war (auch wenn die neue Stadtregierung dies langsam da und dort wieder rückzuschreiben beginnt). Zahlreiche Studien, etwa des Bundesumweltamtes, belegen immer wieder, dass mit der niedrigeren Geschwindigkeit die Luft besser wird, der Lärm zurückgeht und ebenso die Verkehrstoten. Nicht von ungefähr kommt es nun auch in Deutschland seit ein, zwei Jahren verstärkt auch zu Vorstößen, in den Innenstädten sogar Tempo 20 zur Regel zu machen. München, Köln, Stuttgart oder Kiel sind nur einige Beispiele, die zumindest in ihren Kernstädten auf die Zahl 20 setzen. In diesen Wochen zieht auch die Stadt Frankfurt am Main nach und widmet erste Straßen im Zentrum der Stadt von 30 auf 20 um. Widerstände sind dabei zwar durchaus zu vernehmen. Doch sie halten sich erstaunlich in Grenzen. Selbst aus Einzelhandelskreisen, die früher oft Beschränkungen für Autofahrer*innen skeptisch gegenüberstanden, ist mittlerweile nur noch leiser Protest zu hören. Folgt man den verschiedenen Entwicklungen, so scheint die Richtung ohnehin vorgegeben … (sfo.).