
Mehr Mensch in der Gesellschaft
Hinter der eigenen Tür
Gastbeitrag von Frank E.P. Dievernich
Seit 20 Jahren arbeitet die Stiftung Polytechnische Gesellschaft daran, über den Menschen die Gesellschaft zu stärken. Dass diese Aufgabe in einer Zeit, in der zunehmend das Negative im Fokus steht, immer wichtiger wird, um für einmal wieder den Blick auf das Positive zu bekommen, steht im Mittelpunkt eines Impulsbeitrages von Frank E.P. Dievernich.
Man kann angesichts der aktuellen Weltlage verzweifeln. Stimmungsmäßig tun das auch bereits viele Menschen. Derzeit stellt sich in der Gesellschaft zunehmend eine Fokussierung auf das Negative ein, was die Situation nicht leichter macht. Um ein emotionales Gegengewicht zu schaffen, wäre es gerade jetzt angebrachter, auf das Positive zu fokussieren. Leichter gesagt, als getan. Dabei liegt der Kern des Positiven im Menschen selbst. An ihn muss er herankommen, an ihm muss er sein Leben ausrichten. Das wird – so meine Meinung – zu wenig getan. Zu wenig wird bewusst hingeschaut, wie das eigene Leben zu gestalten ist. In unseren Breitengeraden ist der Mensch auch gar nicht darin geübt, das Leben bewusst als eine endliche Angelegenheit in einem größeren historischen und sozialen Kontext zu betrachten.
Genau diese Perspektive ist es jedoch, die es dem Menschen nahelegen würde, sich entsprechende Gedanken zu machen. Schließlich könnte die Prominenz des Negativen in der Gesellschaft auch dadurch zu erklären sein, dass nach langen Jahren eher positiver und eher sorgloser Betrachtungen der Zyklus umschlägt und nun das Negative sein Hoch hat. Es ist dann nur eine Frage der Zeit, wann wieder Anlauf zum Positiven genommen wird. So ist der Mensch: Er versucht immer wieder das Gegenteil vom Vorgefundenen zu produzieren, um herauszustechen und wahrgenommen zu werden. Darauf aber jetzt zu vertrauen, dass irgendwann das Stimmungspendel wieder zurückschlägt?
Nein! Wir, die Gesellschaft, brauchen jetzt den Menschen mit seinen Potenzialen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, seinen Kompetenzen, seiner Kreativität und auch seinem Durchhaltevermögen. Und dies gerade in schwierigen Zeiten, wo das Nicht-Aufgeben elementar ist. Das hervorzuholen, zu stärken und zu fördern, ist eine unserer Aufgaben als Stiftung(en). Aber was müssen wir also tun, damit der Mensch sich vom Jammern ab- und dem Tun zuwendet, sich nicht vom Negativen, sondern vom Positiven anziehen lässt? Probleme angehen, sie lösen zu wollen, das ist der Anspruch, den wir als Mensch an uns haben sollten. Und das ist auch der Anspruch, den wir an uns als Stiftung richten, an diejenigen, die wir fördern und fordern. Aus dieser Perspektive betrachtet, werden Probleme in der Tat zu Herausforderungen, die es zu meistern gilt. Und mit dem Grundverständnis, dass alle Lösungen schon im sozialen Raum existieren, bräuchte der Menschheit gar nicht angst und bange werden. Der Mensch muss sich dafür lediglich seines Potenzials bewusstwerden.
Schließlich braucht es noch den Rahmen dafür, dass der Mensch dieses Potenzial auch ausleben und einbringen darf, soll es wirken. Dieser Raum ist es, der geschaffen werden muss. Wir als Stiftung schaffen diesen Raum in den Projekten, in dem zum Beispiel die Stipendiaten und Stipendiatinnen sich und ihre Ideen ausprobieren können. Menschen müssen dazu befähigt werden, ihre Räume, die sie benötigen, selbst zu schaffen. Nur der Mensch selbst kann die Bedingungen kreieren, unter denen er seine Potenziale auch entfalten kann. Damit beginnt die Verantwortung immer bei jeder und jedem selbst. Das ist im Übrigen auch das, was der Künstler Jonathan Meese schon einmal in einem Podcast sagte, als es um die Frage ging, wie Frieden auf der Welt zu schaffen sei: indem jeder beginnt, hinter (!) seiner Haustür aufzuräumen, die Dinge zu klären, die ungeklärt sind, seine eigenen Verletzungen anzugehen. Es geht darum, sich selbst verstehen zu lernen. Das ist komplex genug. Die Referenz auf die Welt braucht es gar nicht. Diese Form der Selbstreflexion, diese innere Entwicklungsperspektive ist eine zutiefst menschliche. Es ist ein menschlicher Schatz, der, nach allen bisherigen Erkenntnissen, wohl nur uns als Spezies vorbehalten ist. Machen wir also endlich etwas daraus!
Dazu müssen wir damit beginnen, die eigene evolutionäre Prägung hinter uns zu lassen. Angst ist der stärkste Treiber, der vor allen anderen regiert. In einem Umfeld, in dem Angst und Unsicherheit dominant sind, ist es schwer, eine Gegenkraft des Guten zu entfalten. Dazu braucht es dann doch so etwas wie eine bewusst antrainierte Kraft, mit der man sich gegen die Angst stemmen kann – und sich eben, ganz antizyklisch, auf das Positive fokussiert. Da die Welt und deren Probleme derart komplex geworden sind und sich angesichts dessen zurecht der Einzelne verzweifelt fragt, wie dies denn zu lösen sein könnte, dürfte eine Fokussierung auf das Nächstliegende, das Selbst, der erste Schritt sein. Einfluss hat man auf die Art, wie man die Welt betrachtet, wie man die Dinge, die um einen herum geschehen, bewertet, und welche Schlüsse man daraus für das eigene Handeln zieht. Wenn Jonathan
Meese sagt, dass man bei sich beginnen muss, die Welt zu ordnen, dann ist es genau das. Zwar mögen die Welt und deren Probleme den Menschen überfordern, jedoch gibt es im eigenen, direkten Umfeld genug zu tun, wodurch man wirksam handeln und dadurch auch Selbstwirksamkeit erleben kann. Das ist der erste Schritt gegen Angst, Frust und Wut auf die anderen.
Doch damit noch nicht genug. Zudem braucht es auf der Strukturebene auch mal entschlossene Schritte, um wirklich eine Veränderung zu erzielen. Durch die Folgen der Corona-Pandemie, den Krieg in der Ukraine, die Kämpfe im Nahen Osten, eine Spirale schlechter Nachrichten aus der Wirtschaft und zunehmend stärker werdende radikale Kräfte im Politischen, die dazu beitragen, unsere Psyche noch mehr in Dauer-Alarmbereitschaft zu versetzen, wurde und wird die Psyche von uns allen massiv in Anspruch genommen. Von der Klimakrise mit den entsprechenden Folgeerscheinungen gar nicht zu sprechen. Klar ist bei alledem nur: Unsere Lebensumstände sind nicht mehr das, was sie einmal waren – und werden es auch nicht mehr sein. Damit muss man erst einmal klarkommen.
Aber: Wie würde sich die Stimmung im Land verändern, wenn es so etwas wie einen Fonds geben würde, der es ermöglicht, dass die Menschen sich therapeutisch begleiten lassen könnten? Einen Fonds, der ganz aktiv in die psychische Gesundheit der Menschen investiert? Der die Bürgerinnen und Bürger begleiten würde, ihre Sorgen und Ängste als die ihrigen zu verstehen, der dabei helfen würde, hinter der eigenen Tür aufzuräumen? Welcher mentale Wandel würde stattfinden, wenn wir in den Schulen beginnen würden, Potenziale gezielt zu fördern? Wäre die sogenannte Ganztagsschule mit mehr zeitlichen Räumen nicht der ideale Ort, an dem gezielt in die Persönlichkeitsentwicklung, in die Entwicklung individueller Potenziale, in die Auseinandersetzung mit sich selbst investiert werden sollte? Und schließlich: Sollte nicht jedes Bürgeramt derart aufgestellt sein, dass all jene, die neu in eine Stadt oder Gemeinde kommen, auf ihre Potenziale hin befragt werden, sodass ein bewusstes Hinleiten zu zivilgesellschaftlichen Organisationen stattfinden kann, in welche sich die Bürgerinnen und Bürger vor Ort einbringen können?
Menschen das Gefühl zu geben, dass ihre Potenziale gesehen werden, könnte dazu beitragen, dass diese nicht mehr verschwendet werden, wie wir es uns derzeit leisten. Eine der vornehmsten Aufgaben, die eine Stiftung in unserer Gesellschaft haben kann. Eine Stärkung der Psyche, wie beschrieben, würde die Menschen resilienter machen. Die Gefühle des Alleingelassen Werdens, von Ohnmacht, Frust oder Wut könnten durchbrochen werden. Die Zivilgesellschaft mit ihren ganz unterschiedlichen Initiativen und Organisationen als potenzielle Berührungspunkte und Einsatzorte dieser Menschen einzubeziehen, würde ganz aktiv dazu beitragen, gesellschaftlichen Zusammenhalt durch praktisches Tun erlebbar zu machen. All das würde die Welt nicht auf einen Schlag verändern oder besser machen, aber es würde in die richtige Richtung gehen, wieder vermehrt das Positive zu sehen und aus der machtlosmachenden Negativspirale auszusteigen, weil nur im Handeln die Potenziale des Menschen zur Entfaltung kommen und Wirkung entfachen können. Wenn es auch die Aufgabe von Stiftungen ist, Impulse in die Gesellschaft zu geben, dann soll dieser Artikel auch ein solcher sein.