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Quelle: Günther Dächert©

Ausstellungen / Porträtreihe

Wohnen im / mit / ohne Atelier

Annäherungen an das Leben von Künstler*innen

Wie wohnen, wie arbeiten, wie leben Kulturschaffende heutzutage? Dieser Frage geht eine Porträtreihe in Form von Ausstellungen und Artikelserien über Künstler*innen und Kulturschaffende aller Sparten nach. Eine erste Auswahl präsentierte »Urban shorts – Das Metropole Magazin« bereits 2020 bis 2022 als Koproduktion mit dem Frankfurter »Heussenstamm. Raum für Kunst und Stadt« in den dortigen Ausstellungen »Lebt und arbeitet in …« sowie in der Reihe »Künstler*innen. Leben. Orte.« in diesem Magazin. Die Reihe wird nun ab Herbst 2025 in »Urban shorts – Das Metropole Magazin« und mit weiteren Kooperationspartnern in der Region neu aufgenommen. Gemeinsam nähern sich die Porträts in Fotos regionaler Fotograf*innen und Texten von Urban shorts-Autor*innen dem Leben, dem Wohnen und dem Arbeiten von Kulturschaffenden aus der Region an. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf Orten. Auf Städten, in denen die Künstler*innen leben. Auf Wohnungen, in denen sie arbeiten. Auf Ateliers, in denen sie wohnen (müssen). Auf temporären Orten, die sie suchen oder die sie bespielen. Auf wechselnden Orten, zwischen denen sie pendeln, bis über Grenzen von Ländern und Kontinenten hinweg. Es geht in Altbauwohnungen und Hinterhofateliers, in Remisen und Reihenhäuser, in Atelierhäuser oder auch schlicht in die Denkräume in den Köpfen der Künstler*innen. Und dabei geht es auch immer wieder um Identitäten: wie sich Kulturschaffende verstehen, wie sie ihre Kultur(en) in ihre Arbeit(en) einfließen lassen, wie sie mit alten und neuen Identitäten im ständigen Wandel umgehen. Zum Auftakt zeigen wir noch einmal ausgewählte Porträts mit Fotos von Günther Dächert und den Texte der Urban shorts-Autor*innen. In diesem ersten Zyklus lag der Fokus vor allem auf Frankfurter und zum Teil Offenbacher Künstler*innen (red.).


Elena und Nikolai: Ein Leben in Gemeinschaften
Quelle: Günther Dächert©

Künstler. Innen. Orte.

Elena K. – die Verbindende

Mit Kunst und Kultur neue Orte schaffen

»Terz« ist ein Begriff aus der Musik, aber auch ein Synonym für »Krawall«. Eine ungewöhnliche Kombination. Terz heißt auch die Katze von Elena und ihrem Mann, dem Musiker Nikolai, die es sich im Körbchen auf dem Arbeitstisch der Künstlerin gemütlich macht. Das Künstlerpaar hat die Samtpfote vor fünf Jahren adoptiert und vor vier Jahren mitgebracht nach Praunheim, wo die drei in einer von zwei geförderten Atelierwohnungen auf dem früheren Gelände der Praunheimer Werkstätten direkt an der Nidda leben. Und auch das ist eine ungewöhnliche Konstellation. Ein Großteil des Gebäudes ist seit Jahren ein Übergangswohnheim für geflüchtete Menschen. Elena und Nikolai organisieren gemeinsam mit dem Ehepaar der zweiten Atelierwohnung, Sängerin Pariya Dharmajiva und Musiker Leon Lissner, kreative Aktionen, die sie dann mit den Bewohner*innen des Übergangswohnheims umsetzen. Kunst, Musik und Kreativität sowie soziales Engagement sollen einen Beitrag dazu leisten, dass die dort lebenden Menschen ankommen können. So wie die beiden und ihre Katze.

Dahinter steht ein Konzept, das durch die Vereine basis Frankfurt und KunstWerk Praunheim entwickelt wurde. Hiermit sollen Künstler*innen gefördert werden, die sich dafür entscheiden, mit geflüchteten Menschen zusammen zu leben und zu arbeiten. Elena Kotikova-Muck, die nach ihrem Master für Kulturwissenschaften in Russland 2011 nach Frankfurt kam und am Main Kunstpädagogik studierte, beschreibt ihr Zuhause in Praunheim mit den Worten »mitten im Leben«. Schon mit den ersten Veranstaltungen, welche die Künstler*innen im Übergangswohnheim umsetzten, habe es so viele Impulse gegeben von den Menschen, die dort leb(t)en. Kunst und Musik, sagt sie, ermögliche sich auszudrücken und Sprachbarrieren zu überwinden. Und sie spannt dabei einen Bogen. »Meine eigene Arbeit bezieht sich auf Orte und auf meine Migration«, sagt die Künstlerin, die in Russland im Grenzgebiet zur Ukraine geboren wurde. Dieses Grenzgebiet ist geprägt durch Tschernobyl, viele Orte dort seien seit der Reaktor-Katastrophe verlassen. Was von ihnen übriggeblieben ist, hat sich Elena Kotikova-Muck auf einer Reise dorthin angesehen und ein Stück davon mitgenommen nach Frankfurt – in Form von Frottagen der Außenwände von Häusern und in eigenen Zeichnungen und Monotypien. Auch das fließt in ihre Arbeit hier. Das Atelier von Elena Kotikova-Muck ist Teil der Wohnung, auch ihr Mann hat ein eigenes Musikzimmer. Die neueste Errungenschaft der Künstlerin ist eine Radierpresse, die sie für ihre eigene Kunst, aber auch für Workshops, vor allem mit Kindern und Jugendlichen aus dem Übergangswohnheim nutzen möchte. Kunstbücher stehen aufgereiht im Regal, der Raum ist lichtdurchflutet, einige ihrer grafischen Arbeiten hängen an der Wand. Aktuell bereitet sie sich auf ihren zweiten Studienabschluss in Deutschland, auf den Bachelor in Kunstgeschichte, vor. Elena und Nikolai sind angekommen hier »mitten im Leben«. Einen Ort zu finden, an dem man zu Hause ist, ist auch das, was die Menschen im Wohnheim suchen. Mit ihren Kunst- und Musikprojekten trägt das Paar dazu bei und schlägt auch eine Brücke für diese Menschen zum Stadtteil und seinen Bewohner*innen. Und sie fühlen, was ihre Künste aus dem Ort machen (alf.).

Günther Dächert©
Klaus Schneider zwischen Lebenskunst und Künstlerleben
Quelle: Günther Dächert©

KÜNSTLER. INNEN. ORTE.

Klaus S. – Der Lebenskulturschaffende

Ein Leben, fast wie aus dem Künstlerbilderbuch

Ein Idyll, eine Oase – zwei Worte würden ausreichen, Klaus (und Cosima) Schneiders kleine Welt in einem Hinterhof in Seckbach zu beschreiben. Von der staubigen Durchgangsstraße kommend, betritt man eine andere Welt: ein kleiner Hof mit Kopfsteinpflaster, ein altes zweistöckiges Hinterhaus, zugewachsen mit Efeu, kleine Sitzecke hinter verträumten Blumenkästen, ein ausladender Feigenbaum. Pittoresk – wie aus einem Fotobuch, irgendwo in Europas Süden aufgenommen. Der Frankfurter Künstler hat hier – man muss es so sagen – seinen »Lebensmittelpunkt«. Seit Jahrzehnten bewohnt er die 70 Quadratmeter im ersten Stock oder das kleine Erdgeschossatelier (neben dem hinter einem alten Garagentor noch das Lager liegt) – oder seit einigen Jahren beides zusammen. Ebenso wie er zeitweise in den zwei ineinandergehenden Atelier-Räumen auch mal wohnte und arbeitete zugleich, kurze Zeit gar zusammen mit seiner Frau. Ateliers »in der Stadt« hatte er immer nur temporär. Ein »Künstlerleben« ließe sich romantisierend sagen. Auch wenn durchschimmert, dass dies alles nicht nur »romantisch« ist. Wenn davon die Rede ist, dass alles am Haus selbst gemacht werden muss, und der Efeu im Winter auch zuweilen die einzige Dämmung ist. Oder wenn Schneider sagt, dass es oft das Einkommen der Buchgestalterin Cosima Schneider ist, das die Grundlage ihres Auskommens bildet – und er von seinen unregelmäßigen Einkünften dazugibt, was er kann. Zuletzt mal wieder etwas mehr, durch einen unverhofften Museumsankauf …

Ein Künstlerleben eben. Dass Schneider als Künstler durchaus einen Namen hat, Werke von ihm im öffentlichen Raum zu sehen sind, er als Hochschul-Dozent arbeitete, ihn sogar Museen angekauft haben – es ist alles kein Widerspruch dazu, eher die Regel. Gerne spricht man bei Kulturschaffenden von »Lebenskünstlern«. Bei Klaus (und wohl auch bei Cosima) Schneider träfe es der Begriff »Lebenskulturschaffende(r)« vielleicht noch besser. Wohnung, Atelier, der Vorplatz atmen Lebenskunst. Von den selbstgebauten Möbeln in der Wohnung über die akkurat drapierten Kunstwerke befreundeter Künstler*innen und aus dem eigenen OEuvre bis zum sorgsam zelebrierten Tee, den man zum Gespräch in farbigen Tassen gereicht bekommt. Dieses Leben spiegelt fast das vielgestaltige und auch ungewöhnliche Künstlerleben. Wort, Bild, Ton, Installation – die Genres verschwimmen nicht nur, sondern verbinden sich oft ungewöhnlich harmonisch. Sprache stand bei ihm einmal am Anfang – bevor er merkte, dass sie alleine nicht ausreichte, Dinge und Emotionen auszudrücken. Die Kunst hat Schneider fortan ungewöhnliche Wege geführt. Die Braille-Schrift, das Sehen und Nichtsehen sowie die hohe Kunst des Berührens (wortwörtlich und übertragen) haben lange einen guten Teil seiner Arbeit ausgemacht. Später haben es ihm Haikus in allerlei Variationen angetan. Ob als Bild, als Text oder als Installation – immer wieder spielt er mit dem harmonischen Verweben von 17 Elementen. In jüngerer Zeit versucht er, dies auch in eine musikalische Ebene auszudehnen. Lange Zeit hat er sein Wissen auch weitergegeben und Studierende das Zeichnen gelehrt, auch mit ungewöhnlichen Zugängen über Comics etwa. Obwohl Schneider sich viele Zugänge zu Kultur und Leben geschaffen und vieles dabei erschaffen hat, hat er wie viele Kulturschaffende keine Reichtümer angehäuft. Eher reiche Orte geschaffen. Orte, die Kunst und Menschen verbinden, Kultur schaffen. Und die ihm auch selbst neue Türen geöffnet haben. Eine zweite Heimat ist Italien geworden. Oft hat er dorthin sein Sommeratelier verlegt. Bis aus den Gastgebern ein befreundetes Ehepaar wurde. Seither können die Schneiders sommers immer wieder einige Wochen, gar Monate dort verbringen. Und längst steht im Süden auch ein dreidimensionales Haiku als Kunstwerk in der Landschaft. Während er offenbar wieder manches von der dortigen Kultur in sein hiesiges Leben und Schaffen mitgenommen hat. Eine Vision hat er noch: ein Konzert- und Veranstaltungsraum, dessen Außen aus 17 einzelnen Flächen besteht. Ein Ort vielfacher Harmonie … (vss.).

Günther Dächert©
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Quelle: Günther Dächert©

Künstler. Innen. Orte.

Samuel B. K. – der Großdenkende

Warum weniger als eine Stadt als Atelier und Lager?

Ein Ein-Zimmer-Appartement mit Dachschräge, zwei Fenstern, Küchenzeile, Bad. Nicht schön, aber zweckmäßig. Der Blick aus dem Fenster: eine geflickte Pflasterstraße, Betonkuben, Industrieschornsteine, Kräne, eine Spielhalle, ein FKK-Club. Keine Cafés, keine Geschäfte. Viel soziales Leben oder gar deutschen Alltag gibt es in der Gegend nicht. Am Abend parken Luxuskarossen mit auswärtigen Nummern vor dem Haus. Tagsüber gehört die Straße den Lastwagen. Letzten Sommer heizte sich das Appartement fast unerträglich auf. Aber wer hätte in Deutschland mit Sommern um 40 Grad gerechnet, als das Haus gebaut wurde. Immerhin gibt es ÖPNV. Und wenn man es großzügig betrachtet, ist die Nebenstraße der Hanauer Landstraße fast noch Innenstadt. Das ist das Deutschland, das sich Samuel Baah Kortey immer wieder auftut, seit er vor einem Jahr aus Ghana als Stipendiat an die Städelschule kam. Dort arbeitet er auch in einem Gemeinschaftsatelier.

Welch’ andere Welt. Zuhause in Kumasi hat er die ganze Stadt als Atelier. Überall Orte und Menschen, die etwas für ihn lagern oder auftreiben. Diese Kontakte und die enge Vernetzung mit seiner Umgebung fehlten ihm in Frankfurt. Nicht nur, weil er nur Englisch spricht. Sein Künstlerdasein sei hier weniger frei, beschränkter. Es war schon ein Lernprozess, in Deutschland anzukommen. Er fühlte sich anfangs wie in einem Buch oder in einem Kinofilm. Deutschland sei da für ihn gewesen wie das Einstimmen in einen Chor. Einen Chor aber, der bereits singt. Zuerst der Papierkram. Nach dem Studium 2017 und mit der Einladung der Städelschule begann sein Kampf ums Visum. Hier angekommen, hieß ihn das Land mit der Steueridentifikationsnummer willkommen, gefolgt vom Schreiben der GEZ. »Germany, Germany«, seufzt er gespielt verzweifelt. Und seine Wohnung sei einfach zu klein. Zu klein zum Leben. Zu klein zum Arbeiten, zum Lagern, zum Archivieren. Denn er sammelt. Alles, Tickets genauso wie reichsdeutsches Inflationsgeld aus den 30er Jahren. Sammeln ist Teil seiner Arbeit. Und er arbeitet eigentlich immer …

Immerhin: Seine Kunst, so Baah Kortey, funktioniere überall. In jeder Kultur, jedem Raum. Denn es gehe immer um dasselbe: um Einflüsse und wie diese Teil des Menschen, des großen Ganzen, dessen Kultur werden. In Ghana sähe er Autos oder kleine Transporter mit deutschen Aufklebern. Die Menschen würden dies unbewusst konsumieren, nicht in Frage stellen. Aber es mache etwas mit ihnen. Wenn er hierzulande durch Tiefgaragen oder Parkhäuser läuft, checkt er Autos auf ihre »Zukunft«, also darauf, wann sie als »neuwertig« in Ghana landen. Sein hiesiger Kunstprofessor hatte in Ghana gar seinen alten Schulbus aus Gymnasialzeiten entdeckt. Für solche Zusammenhänge will Baah Kortey Bewusstsein schaffen. Wie wir die Welt anschauen, wie wir auf uns schauen, aber auch, wie wir die Dinge für alle gangbar machen können. Seit einem Jahr ist er nun hier. Eineinhalb Jahre werden es werden. Dazwischen mal wieder Kumasi. Ein Stipendienleben. In Ghana fühle er sich freier (auch wenn Künstler es nicht einfach hätten). In Deutschland zähle Wettbewerb und der Wettbewerb um Förderung. Er liebe es, zu arbeiten, zu organisieren und auch Nichtkünstler in sein Schaffen zu integrieren. Und er liebe es, mit Originalen zu arbeiten: mit Schlachtbänken oder mit Menschen, die in Schlachthöfen arbeiten. Doch alles benötigt Genehmigungen oder wird reglementiert. Seine Installationen brauchen Raum, den er hier nicht findet. Das führt mittlerweile dazu, dass er in immer kleineren Dimensionen arbeitet. Wenn seine wandgreifende Installation, die Assoziationen an die Beninbronzen im Britischen Museum weckte, auch eine der flächenmäßig größten Werke des Städelrundgangs 2022 war, so war sie doch wesentlich kleiner als das, was er normalerweise zeigt. Beschränkung ist das, was er sich auferlegen muss. Da, wo vielleicht hierzulande mancher meinen würde, dass es doch umgekehrt sein müsste. Egal was er sieht, ständig versucht er, Schichten aufzudecken und Überlagerungen und Zusammenhänge zu schaffen. In Ghana finanziert er sich größtenteils selbst. Nur so sei es ihm möglich, Kontrolle über sein Werk zu behalten. Denn was er ausstellt, werde dort immer kontrovers diskutiert. Kompromisse sind nicht sein Ding. Eher gar nicht als anders, als er es möchte. Einen Kompromiss ist er aber doch eingegangen. Eine Ausstellung nämlich hatte er auch hier in Frankfurt: in der 1822-Galerie – auf rund 40 Quadratmetern. Vielleicht wird Samuel Baah Kortey sich denn auch nicht nur grämen, wenn sein Stipendium vorbei ist – und er zu Hause wieder mehr Platz zum Arbeiten hat … (sfl.).

Günther Dächert©
Zuhause für zwei Jahre - Anna Neros Atelier in Bockenheim
Quelle: Günther Dächert©

Künstlerinnen. Innen. Orte.

Anna N. – Die Ambivalente

Immer mal in mehreren Welten und Werken

Es ist ruhig im ehemaligen Gebäude der »AdA«, der Europäischen Akademie der Arbeit, auf dem Campus Bockenheim. In der ersten Etage hat Anna Nero ihr Atelier. Seit zwei Jahren arbeitet sie dort, doch längst ist ihr Blick bereits wieder auf einen baldigen Umzug in eine Ateliergemeinschaft im nahen Stadtteil Ginnheim gerichtet. Das Atelier in der AdA ist nur eine Zwischennutzung. Wann genau sie umzieht, stehe aber noch nicht fest, sagt sie. Vermutlich im Herbst. Die AdA wandelt sich gerade in ein Vorzeigeprojekt für gemeinschaftliches Wohnen. Auf dem Weg dahin sind immer mal wieder Räume frei, so auch der ehemalige Unterrichtsraum, den sie über das Atelierhaus Basis vermittelt bekam. Für zwei Jahre war er ihr »Arbeitsmittelpunkt«. Mit reichlich Platz. Für große und kleine Leinwände, angelehnt an den Wänden oder auf dem Boden liegend zum Trocknen. Mal ist es die Ölfarbe, die trocknet, um den nächsten Farbauftrag möglich zu machen, mal eine Grundierung, die sie zur Vorbereitung ihrer Bildgründe nutzt. Mindestens 60 bis 70 Tuben Ölfarbe liegen nach Tönen sortiert am Rande einer großen Glasplatte unweit der Fensterfront. Nero, die in Leipzig Malerei an der Hochschule für Grafik und Buchkunst bei Ingo Meller und Oliver Kossak studiert hat, nutzt diese als Palette zum Anrühren der Farben. Fast sind es schon eigene abstrakte Kunstwerke. Auch ihre Gemälde sind Abstraktion, lassen aber auch gegenständliche, erotisch konnotierte Interpretationen zu – ganz subtil. Erotische Kunst ist ihr nicht fremd, Begriffe wie Fetischismus oder beseelte Objekte ebenso wenig. Es ist vor allem die Auseinandersetzung mit Farbe, Form und Raum, die auf den zweidimensionalen Flächen sichtbar wird. Die Künstlerin arbeitet dabei immer an mehreren Werken gleichzeitig.

Der Wechsel, Vielseitigkeit und Ambivalenzen scheinen das Leben der Künstlerin Anna Nero zu durchziehen. Kunst scheint ihr dabei in gewisser Weise in die Wiege gelegt worden zu sein. Geboren wurde sie in einer jüdischen Künstlerfamilie in Moskau. Aber bereits im Alter von acht Jahren kam sie aus der damaligen Sowjetunion nach Deutschland. Ihre Mutter Julia Ovrutschski und ihre mittlerweile verstorbene Großmutter Tatiana Ovrutschski, die beide noch in Moskau Kunst studiert hatten, wurden Malerinnen. Nero hat manches von ihnen – aber auch wieder nicht. Auch sie malt, formt aber auch skulpturale Objekte aus keramischen Materialien. Früher habe sie sich vorstellen können, sogar einen ganz anderen Beruf zu ergreifen, etwa Jura zu studieren. Und doch sei es am Ende der Weg geworden, den bereits Mutter und Großmutter genommen hatten. Ambivalenz steckt auch in den Orten ihres Lebens. Bockenheim ist längst ihr Zuhause geworden. Sie sieht sich, wie sie sagt, als »Ur-Frankfurterin« – und liebe die Stadt mit ihrer Internationalität und Diversität. Sie lebt in einer Wohnung in einem Hinterhaus in Bockenheim. »Auch meine Eltern leben in dem Haus, in dem es eine gute Gemeinschaft gibt«, sagt sie. Und Moskau? »Kein Ausgang« steht in kyrillischen Buchstaben auf Neros rechtem Unterarm tätowiert, auf der anderen Seite hat sie sich die Hausnummer des Gebäudes, in dem sie einst in Moskau wohnte, stechen lassen. Zusammen mit einer Freundin aus Kindertagen. Es sind ihre ganz persönlichen Erinnerungen an ihre Zeit in der ehemaligen Sowjetunion. Eine Zeit, an die sie auch gerne zurückdenkt, wie immer wieder durchschimmert. Eine klare Linie hingegen zieht sie zu dem »politischen Moskau« von heute. Zum Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine bezieht sie klar Stellung. Klar dagegen. – Privates und Berufliches trennt Nero gerne. In ihrer Wohnung befindet sich zwar Kunst. Aber keine Bilder von ihr, nur Arbeiten anderer Künstler*innen. Auch die Motivation für ihre Kunst ist eine besondere: »Als Künstlerin«, sagt sie, »schafft man Dinge, die für andere Menschen Bedeutung haben«. Und das sei ihr wichtig in diesem Leben … (alf.).