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Film »Banyan Tree Lounge« (Nassauischer Kunstverein Wiesbaden)
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Medien | Digitale Demenz

Wenn Computer für uns denken

Prof. Manfred Spitzer über die digitale Schattenseite

»Unser Gehirn kann eines nicht: nicht lernen«, sagt der renommierte Psychiater und Psychologe Prof. Manfred Spitzer. Wenn es nicht gefordert werde, baue es ab. Deshalb sind für Spitzer die vielen digitalen Helfer der heutigen Zeit vom Smartphone über den Computer bis zum Navigationssystem oft mehr Fluch als Segen, vor allem für Kinder. [weiter…]

Essay | Prof. Manfred Spitzer

Digitale Demenz

Das Gehirn kann eines nicht: nicht lernen

Wer bis ins hohe Alter im Kopf fit bleiben will, muss sein Gehirn trainieren. Doch die schöne digitale Welt – mit Smartphones, Apps und Navigationssystemen– erleichtert uns den Alltag. Doch unser Verstand will mit Daten gefüttert werden, denn sonst verkümmert er.

Vor einigen Jahren bemerkten Ärzte in Südkorea bei jungen Männern, die Computer und Internet intensiv nutzten, Gedächtnis-, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen sowie emotionale Verflachung und allgemeine Abstumpfung. Sie nannten das Krankheitsbild »Digitale Demenz«. In der Medizin bezeichnet Demenz ganz allgemein die Abnahme geistiger Leistungen, also geistigen Abstieg, und wie bei jedem Abstieg dauert dieser um so länger, je höher man beginnt: Von einer Stranddüne hat man sehr rasch Meereshöhe erreicht, während man vom Mount Everest sehr lange absteigt und sich zugleich auf großer Höhe befindet.

Das menschliche Gehirn unterliegt einem beständigen Neubau, Umbau und auch Abbau: Wenn Neues gelernt wird, entstehen neue Verbindungen, sogenannte Synapsen, zwischen den Nervenzellen. Werden sie nicht gebraucht, werden sie weggeräumt. Dies ist die eigentliche Aufgabe der Synapsen. Das Gehirn enthält eine Million Milliarden Synapsen, die sich in Abhängigkeit vom Gebrauch permanent ändern. Das Gehirn kann daher eines nicht: nicht lernen.

Sehr viele Menschen arbeiten mit digitalen Helfern, weil diese uns geistige Arbeit abnehmen – ähnlich wie Rolltreppen, Fahrstühle und Autos uns körperliche Arbeit abnehmen. Die Folgen mangelnder körperlicher Tätigkeit für Muskulatur, Herz und Kreislauf sind bekannt: Abbau und Minderfunktion. Dass es sich mit unserem Geist ganz ähnlich verhält, haben wir dagegen noch nicht begriffen. Betrachten wir zwei Beispiele: Wer ein Satellitennavigationsgerät im Auto hat, lagert das Navigieren aus seinem Gehirn aus. Entsprechend haben schon sehr viele Menschen verlernt, sich mit Karte und ihrem gehirneigenen Navigationsmodul zu orientieren. Bei Londoner Taxifahrern, die 25.000 Straßen und ein paar Tausend weitere Orte kennen müssen, um ihre Lizenz zu bekommen, wurde schon vor mehr als einem Jahrzehnt ein vergrößertes Navigationsmodul im Gehirn festgestellt, denn es wächst bei ihnen im Laufe der Ausbildung.

Die Misere mit den sozialen Netzwerken

Auch unser Sozialverhalten wird von mehreren Gehirnmodulen gesteuert. Bei Affen, die in Kindheit und Jugend entweder allein oder in Käfigen mit zwei bis sieben Tieren gehalten wurden, zeigte sich ein deutlicher Zusammenhang zwischen der Größe der Gruppe, in der die Tiere gelebt hatten, und Modulen des sozialen Denkens und Handelns: je größer die Gruppe, desto größer das soziale Gehirn. Studien haben ergeben, dass digitale soziale Netzwerke unsere Kinder und Jugendlichen eher einsam und unglücklich machen. Man mag sich gar nicht ausmalen, was langfristig mit den noch in Entwicklung befindlichen sozialen Modulen geschieht, wenn die zu ihrer Entwicklung notwendigen Nervenverbindungen wegen fehlender realer Sozialkontakte gar nicht erst entstehen können. Wie sollen Acht- oder 13-Jährige Empathie oder das Dekodieren von Mimik, Gestik oder Sprachmelodie auf den affektiven Gehalt hin erlernen, wenn bei virtuellen Sozialkontakten niemand da ist?

Was für das Navigieren im Raum und zwischen den Menschen gilt, trifft auf geistige Leistungen ganz allgemein zu: Das Gehirn bildet sich in Auseinandersetzung mit der Welt – der wirklichen Welt. Das Resultat dieses in den ersten beiden Lebensjahrzehnten stattfindenden Prozesses nennen wir Bildung. Wie wichtig Bildung, das heißt die Ausbildung von Strukturen im Gehirn durch Lernen ist, zeigt folgendes Beispiel: Wer zweisprachig aufgewachsen ist und zeitlebens die zweite Sprache spricht, bekommt die Symptome einer Alzheimer-Demenz mit einer Verspätung von 5,1 Jahren. Dabei ist es nicht so, dass die krankheitsbedingten Gehirnveränderungen später auftreten; vielmehr verfügt ein gut gebildetes Gehirn über mehr Reserven, also mehr vorhandene Verbindungen, die es nutzen kann, wenn die Hardware langsam kaputt geht. Diese Studie zeigt die Auswirkungen geistiger Tätigkeit auf einen späteren geistigen Abstieg, das heißt eine sich entwickelnde Demenz, sehr klar. Es gibt übrigens kein Medikament, mit dem sich das Auftreten einer Demenz auch nur annähernd so gut verzögern ließe, wie dies für Zweisprachigkeit nachgewiesen ist.

Wie wichtig die Gehirnbildung für den Verlauf des geistigen Abstiegs im Alter ist, zeigte eine der bedeutendsten Studien über das Altern, die jemals durchgeführt wurde. In einer Längsschnittstudie wurden 678 Ordensschwestern im Alter von 76 bis 107 jedes Jahr untersucht und getestet. Nach ihrem Tod wurden die Gehirne wissenschaftlich untersucht. Eine der Besonderheiten dieser Studie bestand darin, dass die Teilnehmerinnen alle in jungen Jahren dem Orden beigetreten waren und eine sehr einfache und vor allem sehr ähnliche Lebensweise aufwiesen. Die Archive der Klöster boten Einblicke in die Lebensläufe der Nonnen und in ihre geistigen Aktivitäten vor Jahrzehnten. So konnte man zeigen, dass diejenigen Schwestern, die ihren (im Alter von 22 Jahren geschriebenen) Lebenslauf besser formuliert hatten, im Alter weniger dement waren. Schwester Maria beispielsweise war bis ins Alter von 84 Jahren als Lehrerin tätig und, bis sie mit 101 Jahren an einem Tumorleiden verstarb, geistig noch immer sehr rege. Auch die im Jahr vor ihrem Tod gemachten Tests zur Ermittlung der intellektuellen Leistungsfähigkeit zeigten keinerlei krankhafte Auffälligkeiten. In krassem Gegensatz dazu war jedoch ihr Gehirn voller Veränderungen, wie sie für Alzheimer-Demenz typisch sind.

Das Gehirn ist flexibler als jedes andere Organ

Krankhafte Veränderungen bei Alzheimer-Demenz werden also durch geistige Tätigkeit nicht verhindert. Vielmehr kann ein gebildeter Geist deutlich kränker sein als ein schwacher Geist, ohne dass man das merkt. Man kann sich die Zusammenhänge genauso vorstellen wie im körperlichen Bereich: Ein Gewichtheber, der an Muskelschwund erkrankt, wird über längere Zeit noch kräftiger sein als die meisten anderen Menschen, die nicht an einer Muskelkrankheit leiden. Bei der geistigen Leistungsfähigkeit verhält es sich im Prinzip genauso, nur ist hier der Effekt deutlich größer. Denn das Gehirn ist flexibler als jedes andere Organ in unserem Körper, einschließlich der Muskeln.

Daher wundert nicht, dass Folgendes mittlerweile zweifelsfrei wissenschaftlich nachgewiesen werden konnte: Wer schon als Kleinkind viel Zeit vor Bildschirmmedien verbringt, zeigt in der Grundschule vermehrt Störungen der Sprachentwicklung und Aufmerksamkeitsstörungen. Eine Playstation verursacht nachweislich schlechte Noten im Lesen und Schreiben sowie Verhaltensprobleme in der Schule. Ein Computer im Kinderzimmer wirkt sich negativ auf die Schulleistungen aus, und im Jugendalter führen Internet und Computer zu einer Verringerung der Selbstkontrolle und zur Sucht.

Halten wir fest: Was wir früher einfach mit dem Kopf gemacht haben, wird heute von Computern, Smartphones, Organizern und Navis erledigt. Dies birgt immense Gefahren, insbesondere für die sich noch entwickelnden Gehirne von Kindern. Die hierzu bereits vorliegenden Forschungsergebnisse sind alarmierend: Wenn wir unsere Hirnarbeit auslagern, lässt das Gedächtnis nach. Nervenzellen sterben ab. Bei Kindern und Jugendlichen wird durch Bildschirmmedien die Lernfähigkeit drastisch vermindert. Zu den Folgen gehören auch Ängste und Abstumpfung, Schlafstörungen und Depressionen, Übergewicht und Gewaltbereitschaft. Diese Entwicklung ist bedenklich und erfordert vor allem bei Kindern Konsumbeschränkungen, um den Risiken und Nebenwirkungen digitaler Informationstechnik entgegenzuwirken.

Der Beitrag erschien zuerst im 3sat Magazin und ist hier mit freundlicher Genehmigung der Redaktion nachgedruckt.