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Ohne Worte - Raum für eigene Gedanken
Quelle: Barbara Walzer (bw.)©

Einen Moment bitte | Es geht um ...

45.000.000 einzelne Menschen

20.06. | Der Welttag des Flüchtlings


Züge im Nichts
Quelle: Niko Neuwirth©

Optionen für Wandel | Bahnverkehr

Angehängt statt abgehängt

Pläne, die Bahn auf dem Land zu reaktivieren

Immer mehr Städte und Orte aus dem »Umland« wurden in den letzten Jahrzehnten buchstäblich abgehängt. Rund 6.000 von einst 45.000 Kilometern Bahnstrecke sind über zweieinhalb Jahrzehnte hinweg stillgelegt worden. Mittlerweile gibt es Pläne und Initiativen, die Bahn – und damit auch die Menschen – da und dort wieder anzukoppeln. Auch wenn es paradox klingt: Sogar in Corona-Zeiten könnte dies eine gute Idee sein. 

Manchmal ist es aufschlussreich, sich Zahlen anzusehen. Zum Beispiel zum Bahnverkehr in Deutschland. Die gute Nachricht zuerst: Das Schienennetz ist vor Corona im Jahr 2019 gewachsen. Die nicht so gute Nachricht: um sechs Kilometer. Diese Schienen würden gerade ausreichen, um Frankfurt-Sachsenhausen mit Offenbach zu verbinden. Aber gut – da liegen ja bereits Schienen. Weswegen die sechs Kilometer wohl nicht nur für ein paar S-Bahn-Gleise in Frankfurt (tatsächlich), sondern auch noch für zwei Strecken in Brandenburg und Sachsen reichten. Zum Vergleich: Autobahnen wurden im gleichen Zeitraum um 99 Kilometer ausgebaut, Bundesstraßen um fast 150 Kilometer.

Soviel zu Klimaschutz und Verkehrswende, zu denen sich Politiker*innen im Lande immer gerne bekennen. Immerhin hält sich die Deutsche Bahn viel darauf zu Gute, 2019 keine Strecken stillgelegt zu haben. Erstmals seit vielen Jahren. Per Saldo hat die Bahn nämlich in eineinhalb Jahrzehnten rund 2.500 Kilometer Gleisstrecke vom Netz genommen. In den vergangenen 25 Jahren sind sogar über 6.000 der einst fast 45.000 Streckenkilometer stillgelegt worden. Vorteil beim Stilllegen ist allerdings, dass diese Gleise wieder reaktiviert werden können. Städte und Orte könnten wieder an ihre Umgebung und an die urbane Welt drumherum angebunden werden. Experten des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) und der Allianz pro Schiene haben zuletzt rund 4.000 Streckenkilometer ausgemacht, bei denen es sich lohnen würde, sie wieder in Betrieb zu nehmen.

Meist wäre dies im Sinne der Ökologie, zuweilen aber auch aus betriebswirtschaftlichen Gründen gut. Das Ziel: knapp 300 Städte und Gemeinden wieder ans Netz anschließen, die zum großen Teil über die Jahre abgekoppelt worden sind. In Hessen zählten dazu die Kleinstädte Bad Orb, Bad Schwalbach und Homberg (Efze), an dem eine der drei, vier am meisten mit Staus belasteten Autobahnstellen des Bundeslandes liegt. Die Bahn hat zumindest reagiert, Stilllegungen ausgesetzt und ist dabei, Reaktivierungen zu prüfen. Rückenwind kommt aus Berlin, wo neue Gelder zur Finanzierung im Zuge des Klimaschutzes bereitgestellt wurden. Deutschland hat allerdings Nachholbedarf. Nur rund 77 Euro fließen pro Jahr und Kopf der Bevölkerung in die Schiene. In der Schweiz sind dies 365 Euro. Nicht von ungefähr glauben nicht nur Eidgenoss*innen, dass Schweizer*innen eine der besten Bahnversorgungen in Europa haben. Paradoxerweise könnte sogar Corona ein Argument für die Reaktivierung sein. Das Gegenargument, dass die Züge halbleer fahren würden, wäre ja fast schon ein Pluspunkt. Aber vielleicht entdeckt dabei ja mancher Autofahrer die Bahn neu. Expert*innen gehen allerdings auch davon aus, dass alleine das Reaktivieren der Bahnen nicht reicht. Längst weiß man, dass es ein Gesamtkonzept braucht. Mit Park-and-Ride, Zubringer-Bussen oder selbstfahrenden Autos sowie Leihfahrrädern in der Region. Und vielleicht sogar mit jenen E-Rollern, die in der Stadt unsinnig auf den Trottoirs herumliegen … (vss.).

Orte der Kunst

Ein Kommentar

Resümierend lässt sich feststellen, dass Frankfurt in
den letzten drei Jahrzehnten eine wachsende un-
abhängige Kunstszene hervorgebracht hat, die sich
parallel zu der Dominanz der kommerziellen Gale-
rien, des Kunstmarktes und der Museumslandschaft
positioniert. Im Gegensatz zu Berlin, deren lebendi-
ge und vielfältige Kunstszene insbesondere geprägt
durch unabhängige Künstlerinitiativen, von Künstlern
betriebenen Produzentenräumen und Ateliergemein-
schaften, die von der Stadtregierung besonders geför-
dert werden, haben unabhängige Kunstinitiativen in
Frankfurt am Main immer noch mit vielen Herausfor-
derungen zu kämpfen. Es gibt eine große Diskrepanz
zwischen der institutionellen Förderung etablierter
Kultureinrichtungen für Bildende Kunst und der im
Vergleich geringschätzigen Förderung zeitgenös-
sischer künstlerischer Initiativen. Es fehlt weiterhin
an einem Bewusstsein der Stadtverordneten und
anderer Entscheidungsträger für eine angemesse-
ne öffentliche Förderung der Freien Szene, um eine
vielfältige und dynamische Kunstlandschaft zu ent-
wickeln. Es geht schließlich darum – wie Stefan Beck
bereits Anfang der 1990er Jahre formulierte – ein
neues Verständnis von Kunst zu entwickeln und zu
unterstützen, basierend auf Teilhabe und kollaborati-
ven Praktiken, um einen alternativen Raum für Pro-
jekte und Handlungsfelder abseits von Galerien und
Institutionen anzubieten. Dabei ist die Stimme und
die Sichtbarkeit von Künstler*innen in Frankfurt ver-
bessern und die Definition von Kunst nicht Kritikern,
Kuratoren oder Kulturpolitikern zu überlassen. Das seit

2009 bestehende Netzwerk Berliner Projekträume,
ein Zusammenschluss dieser unabhängigen, nicht-
institutionellen Ausstellungsorte, ein fester Bestand-
teil der dortigen Kunstszene und eingebunden in die
Fördermittelvergabe des Landes Berlin für die Freie
Szene, hat noch kein Äquivalent in Frankfurt. Hoffent-
lich wurde mit dem Kick-off Meeting von »Artist Run
Frankfurt« im September 2022 ein weiterer Schritt für
eine nachhaltige Entwicklung gesetzt.

Urban21 | Stadt - Land - Flucht

Wildschweine und letzte Dorfkrämer

Was: Verstädterung und Landflucht in Deutschland

Deutschlands Dörfer schrumpfen, Deutschlands Städte wachsen. 85 Prozent der Menschen leben “hier zu Lande” bereits in Städten. Mit ihnen aber verändern sich sowohl diese Städte als auch das flache Land. Urban Shorts-Reporter haben sich in den Metropolen umgesehen. Sie erlebten Spontanpartys gegen Mietwucher in Hamburg, besuchten neue urbane Kreativzentren in Frankfurt und trafen den Wildtierbeauftragten in Berlin und einige der mittlerweile 5.000 Wildschweine in den Randgebieten der Stadt. Eine Landpartie unternahm derweilen Christiane Florin, die sich die Dörfer in Niedersachsen ansah – und viel guten Willen, aber immer weniger Menschen entdeckte. Sie berichtet von leerstehenden Häusern und alten Leuten. Und vom letzten Dorfkrämer, der nur noch ein paar Stunden in der Woche im Laden steht und sonst nur auf Klingeln an seiner Wohnungstür reagiert. Aber auch von Menschen, die sich dagegen stemmen mit Aktionen wie “Haus sucht Bauer”. Beide Reportagen geben einen tiefen Einblick in das zunehmend zu “Deutsch-Stadt” werdende Deutsch-Land (red./flo.).

Blaupause Kultur | Norwegen

Eine Allianz fürs Leben

Oslo fördert Künstler*innen Jahrzehnte

Skål! Die Gläser klingen. Der Toast gilt dem norwegischen Maler Kenneth
Varpe. Er hat ein vom norwegischen Staat finanziertes Stipendium erhalten. Der flachsblonde Mann mit den hellen Augenbrauen und dem gewinnenden
Lächeln strahlt. »Das Stipendium macht mich frei«, sagt Varpe. »Es ist nun schon mein zwölftes Jahresstipendium in Folge. Mein erstes erhielt ich 2012. Seitdem kann ich mich voll und ganz auf die Weiterentwicklung meiner Kunst konzentrieren. Die langfristige Künstler*innenförderung hier in Norwegen hat mir ermöglicht, meine Malerei konzeptuell und technisch konsequent weiterzuentwickeln – ohne dass meine Kunst instrumentalisiert wird.« Bereits seit 2006 muss Varpe keiner fachfremden Tätigkeit mehr nachgehen, um als Künstler überleben zu können. Durch frühere und die mittlerweile regelmäßigen Stipendien ist er nicht allein auf den Verkauf seiner Werke angewiesen. Das meint er auch, wenn er von »Instrumentalisierung« spricht – nämlich, dass ein Künstler sich nach einem Markt richten müsse. Varpe müsse dies nicht. Und dies komme seiner Kunst zu Gute. So habe er über einen langen Zeitraum Malerei immer wieder neu denken können. Varpe beschäftigt sich mit der Substanz, aus der Kunst besteht: eine politische, philosophische, aber aus seiner Sicht auch eine ganz praktische Frage. Daher macht er künstlerische Materialien zum Motiv seiner Bilder. Angefangen hat er mit Malerband, Ton und Gips als Motiven. In den letzten Jahren wurde seine Malerei zunehmend bunt, es geht um die Materialität von Farbe. Großformatige, abstrakte Malereien, deren Thema üppige, pastose Farben sind. Man merkt, dass Varpe in der Tat offenbar weniger nachdenken muss, wie (verkäuflich) seine Kunst ankommt.

Norwegen – ein Land, dass durch seine Ölvorkommen vor der Küste eine gewisse Sonderstellung in Europa einnimmt und zu den reichsten des Kontinents zählt – geht einen recht eigenen Weg bei der Förderung von Kunst. Mehr als andere Länder sichert es seine Künstler*innen ab, vor allem mit zahlreichen Stipendien mit bis zu zehn Jahren Förderdauer. Ziel der staatlichen Stipendien ist ein garantiertes Einkommen für Künstler*innen, um ihnen wirtschaftliche Sicherheit zu geben, ihre künstlerische Tätigkeit über einen längeren Zeitraum hinweg zu entwickeln. Vergeben werden die Stipendien von verschiedenen Organisationen. Die Höhe der staatlich geförderten Gelder variiert je nach der Organisation. Am höchsten dotiert sind die Stipendien des Kulturrådet. Sie entsprechen etwa 50 % des durchschnittlichen Einkommens in Norwegen. Die anderen Vergabe-Organisationen orientieren sich zumindest an diesem Wert. Die staatlichen Stipendien gibt es für unterschiedliche Förderzeiträume. Es gibt Stipendien über ein, zwei oder drei Jahre, aber auch Fünf- oder gar Zehn-Jahres-Förderungen. Die Stipendien sind dazu gedacht, gezielt verschiedene Karrierephasen von Künstler*innen zu unterstützen. Absolvent*innen können kürzere Laufzeiten beantragen, erfahrenere Künstler*innen erhalten
oft Planungssicherheit durch langfristige Förderungen über fünf oder zehn Jahre. Nach Ablauf können sich Künstler*innen ohne Sperrfrist direkt erneut auf ein Stipendium in der gleichen Laufzeit bewerben. So kann die gesamte Künstler*innenkarriere unterstützen werden.​

In dieser Förderlogik haben Bildende Künstler*innen im Verlauf ihrer Karriere insgesamt zwei Mal Anspruch auf ein 10-Jahres-Stipendium, erweitert gilt ab dem 56. Lebensjahr ein spezielles Stipendium für erfahrene Künstler. Dieses Stipendium können Künstler*innen jährlich bis zum Renteneintrittsalter von 67 Jahre erhalten. Die Förderquote für staatliche Stipendien liegt in Norwegen bei etwa 10 Prozent. Soll heißen: etwa jeder zehnte Antrag wird angenommen. Über das Vergabeverfahren der norwegischen Stipendien berichtet Varpe, dass die Entscheidungen auf der Grundlage von künstlerischer Qualität und Aktivität getroffen werden. Werkproduktion und Ausstellungstätigkeit können ein Kriterium sein, aber Recherchen, künstlerische Prozesse, Experimente und das Aneignen neuer Techniken gelten in gleichem Massen als förderungswürdig. Von den Auswahlgremien, die von Kunstschaffenden besetzt werden, wird eine möglichst vielfältige Zusammensetzung angestrebt: nach Alter, künstlerischem Ausdruck und geografischer Zugehörigkeit innerhalb Norwegens. Das Gremium selbst wird auf zwei Jahre. Varpe nennt die Vorzüge des norwegischen Modells. Für ihn sei die breite und offene Künstler*innen-Förderung eine Investition in die Zukunft des Landes. Künstlerische Experimente und Künstler*innenkarrieren zu fördern, läge für ihn im Interesse der Allgemeinheit und müsse daher von der öffentlichen Hand unterstützt werden. Kunstförderung unter den Prinzipien von Wettbewerb und Exzellenz lehnt er ab. »In dieser Förderlogik gibt es meist nur Raum für das, was ohnehin bereits Aufmerksamkeit hat. Neues kann so gar nicht erst entstehen«, sagt er. Und ergänzt: »Klar, der Impact einer solchen Kunstförderung ist ökonomisch nur schwer zu überprüfen, da Experimente auch scheitern können. Aber wer kann die Welt von morgen vorhersehen? Keiner! Daher dürfen nicht nur Bereiche und Themen unterstützt werden, die bereits erfolgreich sind …« (lkr.).