Über zwei Jahrhunderte Leben
Quelle: Karsten Thormaehlen©

Hingeschaut | 100-Jährige

Gesichter des Lebens

Langzeitprojekt von Karsten Thormaehlen

Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte. Gesichter – auch sie sagen oft mehr als 1000 Worte. Mehr über das Leben von Menschen, als es 1000 Worte oftmals vermögen könnten. Vor allem, wenn dies Gesichter von Menschen sind, die ein langes und die ein gelebtes Leben spiegeln. Ein »Langzeitprojekt« könnte man das Foto-OEuvre des Fotografen Karsten Thormaehlen nennen. Eine »Leidenschaft« nennt er es selbst. Ein halbes Jahrhundert bereits fotografiert er rund um den Globus Menschen. Menschen, die ihrerseits fast alle mindestens im hundertsten Lebensjahr stehen. Menschen, deren Gesichter von diesen Leben erzählen. Menschen, aus deren Gesichtern oft genug das Leben selbst noch immer spricht. In seinen Büchern und Ausstellungen reiht er buchstäblich die Jahrhunderte aneinander, erzählt in seinen Bildern von Leben und vom Leben. Ganz persönliche Jahrhunderte aus allen Teilen dieser Welt. Eine Auswahl seiner Bilder – nicht nur Gesichter, aber diese sind sicher die eindrucksvollsten unter ihnen – ist nun unter dem Titel »100 Jahre Lebensglück« im Verlag Knesebeck erschienen. 50 Geschichten von Menschen, die gemeinsam rund 5.000 Jahre Geschichte(n) erzählen; ein Buch zudem, das Hoffnung macht. Viele Worte darüber zu verlieren, erübrigt sich mit Blick auf die Bilder und Gesichter … (vss.).


Der Frankfurter Oeder Weg - Prototyp eines 15-Minuten-Radius
Quelle: Veronika Scherer (ver.)©

Stadt und Alltag

Alles in Reichweite

Hessens Städte am 15-Minuten-Ideal

Was haben Neu-Isenburg und Viernheim (an der Bergstraße) mit Frankfurt, Offenbach und Darmstadt gemein? Für Hessen ist in allen fünf Städten die Wahrscheinlichkeit am höchsten, innerhalb einer Viertelstunde ein Kino, eine Ärztin oder einen Lebensmittelladen zu erreichen. In allen fünf Städten liegt die Wahrscheinlichkeit bei mindestens 80 Prozent. Zum Vergleich: In Büdingen und Stadtallendorf am anderen Ende der Skala liegt die Wahrscheinlichkeit bei nicht einmal 50 Prozent. Diese Werte ermittelte das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) in einer bundesweiten Studie. Die durchschnittlichen Wege zu Bäcker, Bus oder Bolzplatz liegen dabei in Frankfurt sogar bei nur sechs Minuten. In Büdingen sind es dagegen knapp 20 Minuten. 

Die 15-Minuten-Stadt – Sie ist für viele Stadtplaner*innen heute das Ideal, um in den Städten eine hohe Lebensqualität zu sichern. 24 Alltagsziele wurden dafür festgelegt und in umfangreichen Messstudien untersucht. Das Fortbewegungsmittel der Wahl müssen dabei die eigenen Füße oder das Fahrrad sein. Städte wie Frankfurt schneiden dabei besonders gut ab. Zum einen, da sie als Großstädte ohnehin alle gesuchten Ziele wie Kitas oder Kindergärten im Stadtgebiet haben. Zum anderen in diesem Falle, da Frankfurt ohnehin eine Ansammlung kleiner Dörfer wie Bornheim, Nordend oder Bockenheim mit jeweils einer eigenen fast kompletten Infrastruktur zu sein scheint. In der jüngeren Vergangenheit sind aber auch größere Städte mit dem Hang zu reinen Wohnvierteln oftmals weggekommen von dem früher fast selbstverständlichen Ideal. Städte wie Paris hingegen haben die Idee längst wieder zum Ideal erhoben. Verantwortlich dafür sind die heutige Bürgermeisterin Anne Hidalgo und der Sorbonne-Professor Carlos Moreno, der 2016 der »Erfinder« dieser Idee war. Deutschland ist laut Studie auf einem sehr guten Weg dorthin. Selbst mittlere Städte wie eben Neu-Isenburg oder Viernheim haben hier eine gute Infrastruktur. Das Beispiel Büdingen zeigt aber auch, welche Städte größere Probleme mit den weiteren Wegen haben. Es sind meist solche Städte, die durch Gebietsreformen und Zusammenlegungen entstanden sind und dadurch oft viel freie Fläche zwischen ihren Ortsteilen haben. Ein Problem, das man in Frankfurt nicht kennt: Dort wissen viele Bewohner*innen oft nicht, wo Bornheim aufhört und das Nordend anfängt … (sfo.).


Wo Offenbacher*innen sich bald aus tiefsten Tiefen in die Lüfte gen Frankfurt schwingen könnten ...
Quelle: OIMD / Moritz Zimmermann©

Region | Über den Städten schweben

Hibbdebach, Dribbdebach, Offenbach

Gedankenspiele für eine völkerverbindende Seilbahn

Es gibt zwei Antagonismen, über die Neu-Frankfurter*innen immer wieder staunen. Das eine ist die Geschichte von »Hibbdebach« und »Dribbdebach«. Wer nicht aus Frankfurt oder allernächster Umgebung kommt, kann mit den Begriffen wenig anfangen. Plastischer wird es, sich den Main als besagten »Bach« (zwischen beiden Teilen der Stadt) sowie »hibb« und »dribb« einfach als »hüben« und »drüben« vorzustellen. Der Main verbindet beide Teile der Stadt und der Stadtbevölkerung(en). Doch er trennt auch. Es braucht schon Brücken oder gar Tunnels, um die Menschen von hibb nach dribb und umgekehrt zu bringen. Und beide brauchen Zuführungen, was in der dichtbesiedelten Stadt auch kein einfaches Logistikproblem ist. Zudem: Seit das Auto nicht mehr das (Verkehrs-) Maß aller Dinge ist und neue Querungen eher dem ÖPNV dienen sollen, kommt auch fast nur noch der Tunnel in Frage. Und der ist teuer und aufwändig – und das beileibe nicht nur, um in Städten hibbdebach und dribbdebach zu verbinden. Brücken und Tunnels hingegen dürften nach Ansicht vieler alteingesessener und -sozialisierter Frankfurter*innen und Offenbacher*innen kaum ausreichen, den zweiten, leicht verschärften Frankfurter Antagonismus aufzulösen. Nämlich den, dass Frankfurter*innen Offenbacher*innen nicht mögen und umgekehrt. Und das, obwohl beide direkt aneinander grenzen. Zumindest grenzt Offenbach recht nah an Dribbdebach. Was es für Offenbacher*innen auch wieder besonders schwer macht, nach Hibbdebach zu kommen, ohne über Dribbdebach zu müssen. Dass an manchen Stellen zwischen Offen- und Dribbdebach noch Oberrad dazwischenliegt, ist da eher nebensächlich …

Bei so viel wohlgepflegten Gegensätzlichkeiten bedarf es schon pfiffiger und vielleicht sogar gewagter Ideen, die alten Antagonismen aufzulösen und die Menschen hier und dort einander näher zu bringen (weiter lesen) …


Viele Fäden in der Hand – Doch sehr selten stellt Nazim Alemdar sich wirklich in den Mittelpunkt
Quelle: Barbara Walzer©

SERIE • MÖGLICH-MACHER*INNEN

Offen für alle, die offen sind

Nazim Alemdar: Gibt's nicht gibt's nicht

Eigentlich könnte Nazim Alemdar die berühmte Atlas-Figur des Bildhauers Gustav Herold, die auf der Spitze des Hauptbahnhofes steht, aus dem Schaufenster heraus sehen. Eigentlich. Denn die Fensterfronten seines weit über Frankfurt hinaus bekannten Kultkiosks »Yok Yok«, der sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite an der Adresse Am Hauptbahnhof 6 befindet, sind mit Aufklebern übersät. Aufkleber, die Kunden und Passanten daran aufgebracht haben. »Das hat sich so schon am alten Standort in der Münchner Straße entwickelt«, erzählt Alemdar. Als sie im vergangen Jahr mit ihm und dem Kiosk an den Hauptbahnhof gezogen seien, ging es dort mit den Aufklebern weiter. Täglich schaue er aber, dass an den Schaufenstern nichts klebt, was in irgendeiner Weise dem rechten Spektrum zugeordnet werden könne. »Hier«, so Alemdar, »gibt es keinen Platz für Nazis und für Dealer«. Das Yok Yok sei ein Ort, der offen ist für alle, die offen sind …

Die »Sticker-Wall«, wie sie heißt, bekommt auch an diesem Tag »neues Futter«. Alemdar, den alle nur Nazim nennen, steht hinter dem Verkaufspult im Kiosk, in dem 22 Kühlschränke mit Getränken vor sich hin brummen. Obwohl es noch früher Nachmittag ist, schauen bereits viele Gäste vorbei und unterhalten sich mit dem Inhaber, den die meisten seit langem kennen, quasi mit ihm und seinem Kiosk an den Hauptbahnhof »umgezogen« sind … (mehr lesen).


Nicht nur Tiere finden die kleine Floßinsel interessant
Quelle: Guillaume Bontemps / Ville de Paris/Presse©

Blaupausen | Bürgerbudgets

Die eigene Stadt mitgestalten

Franzosen entscheiden direkt mit über Etats

Ob ein Floß oder eine Insel – Das mögen die Betrachtenden entscheiden. Auf jeden Fall beleben die 35 grün-braunen Quadratmeter, die auf dem kleinen Ourcq-Kanal in Paris am Ufer angedockt haben, den Fluss vielfältig. 350 Uferpflanzen sind darauf zu Hause – und mittlerweile nistende Vögel, zahllose kleine Krebse, Muscheln und allerlei sonstiges sichtbares und unsichtbares Getier. Das »radeau végétalisé«, das hier der Umwelt und den Menschen dient, ist nur eines von rund 850 Umwelt-Projekten, welche in Paris in den letzten zehn Jahren mit dem »Budget Participatif« realisiert wurden. Ein Budget, das seit 2014 jährlich zwischen 50 und 100 Millionen Euro für Investitionen zur Verfügung stellt, über welche die Bürger*innen der Metropole selbst entscheiden können. Insgesamt sind in vielen Bereichen wie Soziales, Umwelt, Kinder, Miteinander in den ersten zehn Jahren rund 21.000 Vorschläge eingereicht worden. 1345 Projekte wurden ausgewählt, sind umgesetzt oder in der Umsetzung – für insgesamt rund 786 Millionen Euro. Anteilig waren das rund 5 Prozent des Gesamtbudgets der Stadt Paris, über das alle Einwohner*innen ab 7 Jahren mitentscheiden können.

»Bürgerbudgets« – eine Idee, die vor allem in südeuropäischen Ländern immer mehr Furore macht. In Spanien wurden im letzten Jahr rund 476 Millionen Euro der Entscheidung der Spanier*innen überlassen. In Frankreich werden allein in Paris jedes Jahr rund 80 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Dort und in Italien gab es schon im letzten Jahrhundert Möglichkeiten für Steuerzahlende, einen Teil ihrer Steuern quasi selbst in bestimmte Projekte oder für bestimmte soziale Zwecke zu geben. Allüberall ist das Argument das gleiche: die Bürger*innen direkt über einen Teil ihres Geldes mitentscheiden zu lassen. Das »Budget Participatif« in Paris etwa ist seit 2014 ein Bürgeretat, über den die Einwohner*innen selbst entscheiden können. Erst reichen sie über eine Online-Plattform Projekte ein (in der Regel eine vierstellige Zahl), aus denen die Verwaltung meist mehrere Hundert realisierbare Vorschläge herauskristallisiert und budgetiert. Sodann können die Bürger*innen das vorhandene Geld verteilen. In jedem Jahr stehen im September meist einige Hundert Projekte zur Auswahl: von der Renovierung einer kleinen Kirche bis zu einer Sozialkantine. Im vergangenen Jahr wurden letztlich von 137 622 Pariser*innen 114 Projekte für rund 83 Millionen Euro auf den Weg gebracht, in diesem Jahr waren es bereits wieder 162 395 Einwohner*innen, die ebenfalls gut 100 Projekte befürworteten (2014 waren es übrigens noch rund 15.000 Teilnehmer*innen). Längst gibt es entsprechende Bürgeretats auch in Städten wie Metz, Rennes oder Grenoble. In Deutschland stehen vergleichbare Budget-Beteiligungen von Bürger*innen übrigens vielfach noch am Anfang. Die üppigsten sind wohl jene in Leipzig und Mannheim, wo man die Beteiligten über etwa eine halbe Million Euro mitwirken und abstimmen lässt … (sfo.).


Die roten Pfeile sind in Italien die neuen Flugzeuge
Quelle: Mikhail Shcherbakov • CC BY-SA 2.0 (s.u.)©

Blaupausen | Italiens Bahnen

Wenn Bahnen fliegen …

Gute Züge ersetzen Flieger von selbst

Dass Fliegen ein »Klimakiller« ist, ist selbst Vielfliegern klar. Dass auf Kurzstrecken die Bahn eine Alternative wäre, bestreiten auch wenige. Doch die Deutsche Bahn macht es Umsteigern bekanntlich schwer. Im November kündigte nun Trenitalia ein Interesse am Einstieg in den deutschen Markt mit seinen Hochgeschwindigkeitszügen. Und gerade das Beispiel Italien zeigt, dass Bahn auch konkurrenzfähig geht. 

Das Fliegen auf Kurzstrecken kann man sich wunderbar schön- und auch schlechtrechnen. Vor einigen Jahren etwa hat der Bundesverband der Deutschen Luftverkehrswirtschaft – schon am Namen leicht als Lobbyist zu erkennen – für die Kurzstrecken-Konkurrenz Bahn-Flugzeug mal das unschlagbare Beispiel Hamburg-Nürnberg aufgerufen: achteinhalb Stunden mit der Bahn versus knapp zweieinhalb mit dem Flieger. Auch die Luftikusse des BDL haben zumindest verschämt noch »reine Fahr- bzw. Flugzeit« angefügt, aber doch den Unterschied vor allem Geschäftsreisenden mit drohenden Übernachtungen und Überstunden als kaum zumutbar herausgearbeitet. Aber auch unterschlagen, dass das Ganze mit An-, Abfahrts- und Wartezeiten nicht mehr ganz so rosig aussieht. Und erst recht mit anderen Flughäfen (wobei es nicht gleich der in Berlin mit vier Stunden Vorlauf sein muss). Genauso schön hat sich auch schon mal Greenpeace die Alternativwelt der Bahn gerechnet. Rund zehn Prozent aller europäischen Kurzstreckenflüge sei in zwei Stunden mit der Bahn zu machen, nochmals knapp 20 Prozent unter sechs Stunden und weitere 15 Prozent mit Nachtzügen. In Deutschland ließen sich damit über 50 Prozent, in Österreich sogar über 80 Prozent der Kurzstrecken ersetzen.

Klingt plausibel. Aber auch gut? Zwei mal sechs Stunden Fahrt hin und zurück sind nun auch nicht gerade der (terminliche Zu-) Bringer. Bis zu 90 Prozent weniger CO2-Ausstoß ist schon eher ein Argument. Doch die Alternative Bahn würde eine noch bessere Alternative, wenn es mehr gute Gründe gäbe. Der Blick nach Italien könnte hier ein Fingerzeig sein. Dort haben seit einigen Jahren »Trenitalia« und »Italo« mit ihren Hochgeschwindigkeitszügen viele Flugverbindungen schlicht obsolet gemacht. Ein Coup gelang ihnen vor drei Jahren: Italiens einst stolze Fluggesellschaft ging – vereinfacht gesagt – Pleite. Zugegeben: Gründe waren auch Corona und ein Missmanagement auf Langstreckenflügen. Doch zum Niedergang trug auch das Wegbrechen des Inlandsgeschäftes maßgeblich bei. Und das trug damals einen Namen: »Le Frecce«, die »Pfeile«. Seit 2008 ist die Bahngesellschaft Trenitalia mit diesen so genannten Hochgeschwindigkeitszügen unterwegs – und eroberte in gut einem Jahrzehnt Passagier*in um Passagier*in. Paradestrecke ist die Verbindung Rom – Mailand. Die Frecce schafften sie in drei Stunden. Mit dem Flieger dauerte es von Innenstadt zu Innenstadt rund vier Stunden. In der Zeit war man von Mailand mit dem gleichen Zug schon bequem in Neapel. Entsprechend entwickelten sich die Zahlen: Während das Flugzeug auf der Strecke binnen eines Jahrzehnts knapp zwei seiner einst drei Millionen Passagier*innen verlor (kleine Konkurrenten der Alitalia inbegriffen), gewann der Zug damals von einer auf rund dreieinhalb Millionen dazu. Und das Gleiche gilt für das gesamte Hochgeschwindigkeitsnetz: In zehn Jahren steigerten die »Pfeile« die Passagierzahl auf ihren Strecken von 6,5 auf 40 Millionen Menschen. Hinzu kommt, dass die Frecce in Italien nicht alleine unterwegs waren. »Italo« heißt neben Trenitalia ein zweiter Akteur mit Hochgeschwindigkeitszügen. Willkommener Nebeneffekt für die Reisenden: Die Preise sind überschaubar. Ergebnis: Im Inland konnte Alitalia, die vor zwei Jahrzehnten noch fast ein Drittel ihres Umsatzes mit solchen Flügen machte, zum Schluss eigentlich nur noch auf den Strecken zu Inseln wie Sardinien punkten. Apropos Punkten: Ein bestens ausgebautes eigenes Netz sorgt bei den Bahnen zudem für eine Pünktlichkeit, welche die Deutsche Bahn zuverlässig nur einmal im Jahr schafft – wenn immer und verlässlich ab dem zweiten Dezember-Sonntag neue Preise gelten. Nicht von ungefähr investierte die Regierung in Rom bereits zig Milliarden für den Ausbau dieser Hochgeschwindigkeitsstrecken. Ein Beispiel dafür, dass es oft ausreicht, die umweltfreundlichen Alternativen konkurrenzfähig zu machen. Mittlerweile ist zwar längst ITA, die Nachfolgegesellschaft der Alitalia, am Start. Doch das Fliegen im Inland obliegt auch weiterhin zu einem sehr großen Teil den »Roten Pfeilen« und ihren erdnahen Konkurrenten … (sfo.).