Beispiele aus dem Architekturmuseum, wie man im Bestand Neues schaffen kann ...
Quelle: Adrià Goula / Filip Dujardin / Ossip van Duivenbode©

Im Fokus: Graue Energien

Bauen mit dem, was da ist

Ein Special rund um Bauen im Bestand

Gebäude verursachen weltweit 40 Prozent des CO₂-Ausstoßes. Er entsteht zu großen Teilen bereits beim Bau, bei Gewinnung, Transport und Verarbeitung der Materialien und deren Entsorgung. In Zeiten des Klimawandels ist der Verlust dieser »Grauen Energie« ein Problem, vor allem durch Abriss und Neubau von Gebäuden. Urban shorts widmet ein Special dem Bauen mit Bestand, das Graue Energie weiternutzt. Anlass war die Ausstellung »Nichts Neues – Besser Bauen mit Bestand« im Deutschen Architekturmuseum. Wobei Bauen im Bestand eigentlich gar nichts Neues ist … 

Schon in der Antike war es gang und gäbe. Ob Griechen oder Römer – immer wieder wurden Ruinen alter oder eingestürzter Gebäude buchstäblich als Steinbruch für neue Bauten benutzt. Besonders beliebt waren Säulen oder Kapitelle, die als Zitat oder als Baumaterial weiterverwendet wurden. Aber auch schnöde Steinquader wurden oft wiederverwendet. Die alte justinianische Zisterne Konstantinopels nahe der Hagia Sophia ruht auf unzähligen, meist korinthischen Säulen verschiedenster Herkunft. Auch im Mittelalter wurde die Tradition fortgesetzt. Die Baumeister Karls des Großen haben sich bei der Kapelle der Aachener Kaiserpfalz gar in Ravenna bedient. Und bis ins 19. Jahrhundert hinein wurden in vielen mitteleuropäischen Städten Abrissgenehmigungen nur erteilt, wenn zuvor der Bestand ausgewertet und gegebenenfalls für eine weitere Verwertung gesichert worden war. Erst im Zeitalter der Industrialisierung kam dieses Wiederverwerten aus der Mode.

»Graue Energie« heißt jene Energie, die bei der Entstehung eines Gebäudes gebündelt wird. Jener Energiebedarf also, der in der Herstellung, dem Transport, der Verwertung und Verarbeitung sowie letztlich in der Entsorgung eines solchen Baus steckt. Am Lebenszyklus eines Gebäudes macht sie rund 50 Prozent der Energie aus … (mehr lesen).

Adrià Goula / Filip Dujardin / Ossip van Duivenbode©
Die Frankfurter Gruneliusschule: Umbauen im Bestand, das Schule machen kann
Quelle: Karsten Ratzke / Public Domain©

Impulse | Frankfurt baut um

Graue Energie weiternutzen

Ein Gastkommentar von Sylvia Weber

Viel zu oft werden in Städten alte Gebäude durch mehr oder minder schicke Neubauten ersetzt. Nicht selten ist dies Unsinn – zuvorderst ökologisch, oftmals sozial und am Ende auch ökonomisch. Frankfurts Bau-Dezernentin Sylvia Weber plädiert für ein Umdenken und nimmt auch die eigene Verwaltung in die Pflicht. 

Bereits seit über einem Jahrhundert gehen im Frankfurter Stadtteil Oberrad Schülerinnen und Schüler in die Gruneliusschule. Mittlerweile aber ist der mehrfach erweiterte Komplex um das turmartige Schulgebäude von 1907 trotz Renovierungen in die Jahre gekommen – und damit auf meinem Schreibtisch als Bau- und Schuldezernentin gelandet. Längst sind Lehrräume nicht mehr zeitgemäß, ist die Sportversorgung bestenfalls noch eine Turnhalle und das Ganze energetisch eine Katastrophe. Deshalb sollte die Schule abgerissen und neu gebaut werden. Doch dann kam der Ortsbeirat mit dem Wunsch, den Turm zu erhalten. Er sei mit der markanten Erscheinung und seiner Geschichte wichtig für die Identifikation der Bürger*innen mit ihrem Ortsteil. Wissend, wie wichtig Identität für Bewohner*innen eines Stadtteils ist, haben wir uns mit Schulgemeinde und Eltern erneut zusammengesetzt und einen neuen Plan erdacht: Wir erhalten den Turm und einen Großteil der alten Schule, werden drinnen um- und drumherum an- und weiterbauen. Alle Beteiligten sind überzeugt, dass wir das zu eng gewordene Erbe der Stifterfamilie Grunelius in ein zeitgemäßes Schulgebäude transformieren können, welches Raum gibt für neue pädagogische Ansätze bei weitgehendem Erhalt des Bestandes. Zumal der Erhalt von viel sogenannter »grauer Energie« auch ökologisch Sinn macht. Untersuchungen haben ergeben, dass mehr als die Hälfte der Energie, die wir in die Herstellung von Gebäuden gesteckt haben, erhalten bleiben kann, wenn wir nicht abreißen. Nimmt man alles zusammen, ist es am Ende sogar ökonomischer, mit Bestand zu bauen … (mehr lesen).

Umbauen in São Paulo

Kultur im Kaufhaus

5 x Bauen mit Bestand [1]

Die einfachste Form des Bauens im Bestand ist das Umbauen von Gebäuden. In São Paulo (Brasilien) wurde etwa ein ehemaliges Kaufhaus aus den 40er Jahren auf diese Art und Weise in ein Kulturzentrum verwandelt. Bauherr war der Serviço Social do Comércio. Der SESC ist eine seit 1940 bestehende private Non-Profit-Organisation, die in Brasilien verschiedene Kultur-, Sport- und Freizeiteinrichtungen unterhält. Indem sie freien Zugang zu ihren Einrichtungen und Angeboten ermöglicht, fördert sie überall die Nachbarschaft und das soziale und kulturelle Miteinander. Das SESC 24 de Maio befindet sich im ehemaligen Hauptsitz eines Kaufhauses in der Innenstadt von São Paulo. Der Umbau in ein Kulturzentrum stellt eine beispielhafte Anpassung an die geänderten  Nutzungsbedürfnisse der heutigen Gesellschaft dar. Konzipiert als »gestapelte Stadt«, beherbergt das Gebäude auf zwölf Stockwerken nun unter anderem eine Bibliothek, ein Restaurant, Sportplätze, Ausstellungsräume, Theater, Studios für die Bildungsarbeit und ein Schwimmbad auf dem Dach. Durch die Entfernung baulicher Elemente und Zwischenebenen wurden weitere Aufenthaltsräume geschaffen. Außerdem wurden offene Fassadenbereiche sowie Gärten in das neue Kulturzentrum integriert. Die bereits in dem Bestandsgebäude gebundene »Graue Energie« wurde auf diese Art und Weise lediglich erweitert und damit erhalten und weitergenutzt. Im Gegensatz zu einem Neubau erforderte dies weniger kostbare Rohstoffe und andere Baumaterialien. Die Bilder in der Galerie geben einen Eindruck von der Umwandlung in das neue Kulturzentrum (zum Durchklicken) … (red./dam.).

Anbauen in Winterthur (CH)

Kultur in Fabrikhalle

5 x Bauen mit Bestand [3]

Neben dem Umbau sind Anbau und Erweiterung weitere Formen, ein bestehendes Ensemble und die darin enthaltene »Graue Energie« zu bewahren. Beispiel dafür ist eine renovierungsbedürftige alte Gewerbehalle im Schweizer Winterthur, die durch einen Aufbau in die heutige Zeit gerettet wurde. Die Erweiterung des ursprünglich dreistöckigen Gebäudes um drei zusätzliche Stockwerke stellt dabei ein richtungsweisendes Projekt des zirkulären Bauens dar. Die für Werkstätten und Ateliers genutzte neue Kopfbau »Halle 118« besteht zu etwa 70 Prozent aus gebrauchten Bauelementen. Der Planungsprozess begann mit der Suche nach geeignetem Baumaterial – er war dementsprechend offen, die Akteure spielten vor allem mit den gefundenen Bauteilen. Die Struktur der Halle 118 baut auf weiterverwendeten Stahlträgern auf, verkleidet ist sie mit Fassaden-Trapezblech und Aluminium-Isolierfenstern unterschiedlicher Größe. Natürliche Baustoffe wie Holz, Stroh und Lehm wurden ergänzend eingesetzt. Dank der Vermeidung neuer Materialien erreichte man laut den Architekt*innen im Äquivalent sogar eine CO2 -Reduktion von rund 60 Prozent. Die natürlichen sowie wiederverwendeten Bauteile garantieren zudem ein gutes Raumklima und wurden mit minimalem Energieaufwand verarbeitet. Durch das Fortschreiben des Bestandes wurde in diesem Fall ein Abriss und der damit verbundene Verlust von kostbarer gebundener Energie vermieden. Durch kluges An- und Weiterbauen kann in solchen Fällen die thermische Hülle eines Gebäudes bei gleichzeitiger Vergrößerung der Nutzfläche gezielt verbessert werden (red./dam.).

Reaktivieren in Wiesbaden

Ein Platz für Kinder

5 x Bauen mit Bestand [4]

Oftmals verfällt Leerstand über einen längeren Zeitraum hinweg. Zuweilen liegt dies daran, dass es noch keine neue Nutzung für das Gebäude gibt und Neues (noch) nicht rentabel wäre. In solchen Fällen ist zuweilen eine Reaktivierung, zuweilen auch einfach als Zwischennutzung, eine Option. Im vorliegenden Fall dümpelte ein altes und verfallendes Stellwerk der Deutschen Bahn am ehemaligen Güterbahnhof Wiesbaden West aus dem Jahre 1963 vor sich hin. Durch wenige gezielte Eingriffe konnte die robuste Infrastruktur des Gebäudes allerdings recht schnell durch ein örtliches Zentrum für Stadtteilarbeit in einen Kinder – und Jugendtreff umgewandelt werden. Das massive Bestandsmauerwerk bildet die Tragstruktur. Von außen bekam das Stellwerk eine neue, hinterlüftete Fassade aus regionalen Hölzern und Altholz, die den Jugendlichen im Quartier zudem als Aktionsfläche zur Verfügung steht und sich so auch nach außen hin stetig verändert. In den Innenräumen ist das Mauerwerk gereinigt und sichtbar. Bevorzugtes Baumaterial sind OSB Platten. Im Erdgeschoss befindet sich ein Multifunktionsraum mit Küchenzeile und mobilen Möbeln. Über das Obergeschoss mit seinem rundum verglasten Bewegungsraum gelangt man auf die erneuerte begehbare Dachfläche. Für solche Reaktivierungen eignen sich vor allem alte Fabrik- oder Bürobauten (red./dam.).

Rückbauen in Hamburg

Kongresse im Grünen

5 x Bauen mit Bestand [5]

Nicht nur Gebäude, auch Landschaften, kann man umgestalten. Vor allem im urbanen Kontext empfiehlt sich dabei ein Rückbau von versiegelten Straßen und Infrastrukturflächen zur Gewinnung neuen Lebensraumes. Der Alster-Bille-Elbe-Grünzug in Hamburg soll etwa nach seiner Fertigstellung ein vier Kilometer langes Band aus Grünflächen, Fuß- und Radwegen im Ostteil der Hansestadt bilden. 2019 entstand das Projekt »Alster-Bille-Elbe Parks«, kurz Parks, mit dem Ziel, einen Abschnitt des geplanten Grünzugs gemeinschaftlich zu entwickeln – aus und mit dem Bestand. Dieser bindet bauliche Strukturen, örtliche Flora und Fauna, bestehende sowie neue Nutzungen ein. Zusammen mit der Nachbarschaft, lokalen Vereinen und städtischen Vertreter*innen werden die Räume gestaltet. Planungswerkstätten, Interventionen, Spaziergänge, Kulturveranstaltungen und Aktivitäten des Gärtnerns unterstützen den kollektiven, selbst organisierten Arbeitsprozess. Unter Einbeziehung des bereits vorhandenen lokalen Wissens werden neue Perspektiven für die Gestaltung öffentlicher Grünräume ermöglicht. Bei der gezielten Entsiegelung entstehen nicht nur Erholungs- und Freizeitflächen für die Gemeinschaft, sondern auch neue Räume für Flora und Fauna mitten in der Stadt. Dabei tragen solche Projekte auch zur Belebung der Artenvielfalt bei. In der Bildergalerie ist der Gewinn, der auf vielfache Art für die Gemeinschaft entsteht, sichtbar (red./dam.).

Umnutzen in Gouda (NL)

Wohnen im Schwimmbad

5 x Bauen mit Bestand [2]

Die Orte, an denen Bauen im Bestand sui generis zu Hause sind, sind denkmalgeschützte Gebäude, deren Erhalt im Interesse der Gemeinschaft liegt. Er bringt oft auch sehr hohe Anforderungen an das Bauen mit sich. Nicht immer ist alles möglich. Recht ungewöhnlich ist in diesem Zusammenhang sicher der Umbau eines alten Schwimmbades in ein Mehrfamilienhaus im niederländischen Gouda. Das Spaardersbad ist eines der letzten erhaltenen Hallenbäder der 30er Jahre in den Niederlanden. Seinen Namen (übersetzt »Sparbad«) erhielt es von den Einwohner*innen der Stadt Gouda, die während der Weltwirtschaftskrise gemeinsam Geld für seine Realisierung sparten. 2013 wurde das denkmalgeschützte Schwimmbad geschlossen und die Architekt*innen begannen 2016 mit der Erhaltung und Umwandlung in ein Wohngebäude mit sechs Einheiten. Das Konzept basiert auf drei entscheidenden Eingriffen: der Öffnung der Außenfassade an ausgewählten Stellen, der Wiederherstellung des ursprünglichen Dachfensters und dem Einbau einer Glasfassade in der ehemaligen Schwimmhalle. Im Inneren finden sich charakteristische Bestandselemente: Fliesen, Umkleideräume, Garderoben und Treppengeländer wurden wiederverwendet, und das Sprungbrett dient jetzt als Bar in einem der Appartements. Auch das Schwimmbecken selbst ist erhalten geblieben und wird als Gemeinschaftshof genutzt. Die Bildergalerie zeigt auch, dass es sich bei dem ungewöhnlichen »Neubau« tatsächlich mal um ein Schwimmbad handelte (red./dam.).